NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

begegnung mit shuoxin tan: der vierte ring, oder: connected through the www

Aus Noies 01/25 März 2025

Die Computermusikerin Shuoxin Tan ist 2020 von China nach NRW gezogen. Hier studiert sie “Epistemische Medien“ am Institut für Musik und Medien in Düsseldorf, wohnt in Köln der Musikszene wegen und fasst Gedanken in klingenden Code. Das Internet hat sie nicht nur bereits oft mit Gleichgesinnten zusammengebracht, sondern dient ihr auch als musikalisches Tool. Von Friedemann Dupelius.
Foto: Zhewei Hu
Aus Noies 01/25

mewithoutnara.bandcamp.com

Text: Friedemann Dupelius


Köln, Karlsruhe, London 2020. In drei mitteleuropäischen Städten sitzen drei chinesische Computermusiker:innen an ihren, natürlich, Computern – verbunden durch das Internet. Statt dem omnipräsenten Zoom ist ihr Mittel der Wahl das etwas nerdigere Jitsi. Auf dieser Kommunikations-Plattform schaffen sich Shuoxin Tan, Jia Liu und Li Song einen digitalen Raum der zwischenmenschlichen Nähe, während die Pandemie-Gesetze das soziale Leben einschränken. Die drei schauen gemeinsam-getrennt Filme, indem jede:r den eigenen Play-Button synchronisiert drückt. Sie unterhalten sich über Belangloses und Deepes, geben sich sogar gegenseitig Vorträge über ihre aktuellen Forschungen. Und sie machen miteinander Musik. In den Monaten der Isolation gründen Shuoxin, Jia und Li ihr Ensemble [ _  _  _ ]. Einen Großteil ihrer Performances spielen die Künstler:innen auch heute noch über www, ohne sich in der selben Stadt zu befinden.

Blau, rot, grün. Drei ineinander verschränkte Ringe bilden das Logo von [ _  _  _ ]. Das Bild stammt von Jacques Lacan. Der Psychoanalytiker führte es Anfang der 1970er-Jahre als “Borromäischen Knoten“ ein, um damit seine Theorie von der menschlichen Psyche zu veranschaulichen. Die gliedert sich für Lacan in drei Bereiche: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale – jeder symbolisiert durch einen Ring. Würde man auch nur einen von ihnen aus dem Gebilde entfernen, so würde es komplett auseinanderfallen. Ganz so streng sehen es [ _  _  _ ] (für deren Ensemble-Namen es übrigens keine korrekte oder falsche Aussprache gibt) nicht: “Auch ein einziger Ring kann komplett sein – und zu zweit geht es auch“, sagt Shuoxin Tan, der Kölner Part des Trios. 

Wer bis jetzt geglaubt hat, dass es sich hier um drei langjährige Freund:innen handelt, deren Wege sich eines Tages in drei verschiedene Städte aufgespalten haben, liegt weit daneben: Shuoxin Tan und Jia Liu lernten sich erst 2020 online kennen, zusammen geführt von Li Song in London. Der wiederum war zwar einige Zeit Arbeitskollege von Shuoxin Tan in Peking gewesen, hatte mit dieser aber kein Wort gesprochen, wie Shuoxin erzählt. Es war das Internet, das hier Menschen zusammen brachte – nicht zum ersten Mal im Leben von Shuoxin Tan.

Nachdem sie als Kind und Teenagerin unangenehme Erfahrungen mit dem Übe-Drill am Klavier gemacht hatte, aber dennoch irgendwie von Musik fasziniert war, absolvierte Shuoxin Tan ein Bachelor-Studium in “Recording Arts“. Im Studium erlernt sie Musik-Software wie Cubase und Sonar – und produziert als Anfang-Zwanzigjährige ein kuscheliges Electronica-Album mit dem treffenden Namen “Pillow“, oder wie es sie selbst sagt: “Das war die für diese Zeit ganz typische süße IDM (“Intelligent Dance Music“) – und ich war damals ja noch ein süßes Mädchen und diese Musikströmung hat mich fasziniert.“ Neben den cuten Synthie-Melodien und Plunker-Percussions finden sich hier aber schon erste Hinweise auf Shuoxins spätere musikalische Interessen, wenn sie säuberlich aufgenommene Fieldrecordings von Wassertropfen rhythmisiert und in ein musikalisches Narrativ einbindet.

Foto: Voidance

“In China war das etwas Besonderes, wir hatten nicht diese Art von experimenteller Musikkultur. Das meiste, was wir damals hörten, kam aus Europa, Japan und den USA.“ Und da China zugleich sehr groß ist, war es schon damals in den 2000er-Jahren das Internet, über das sich Fans experimenteller “Underground“-Musik kennen lernten. Ganz wichtig war die Filesharing-Plattform Soulseek, in der es einen extra „China Room“ gab: “Meine besten Freunde in China habe ich dadurch kennen gelernt“, freut sich Shuoxin noch heute sichtlich. Gestern hatte man sich noch die gegenseitig geshareten Musik-Ordner heruntergeladen – heute saß man dann schon gemeinsam in der WG-Küche und hörte die Musik zusammen. “Und alle schrieben damals Blogs! Auch Foren wurden sehr ernst genommen“, weiß Shuoxin noch, die sich damals mit einer (selbstverständlich) gecrackten Version der Musiksoftware Fruity Loops und ein paar ebenfalls nicht gekauften (“In China hat man beim Thema Copyright mehr Freiheit als in Europa.“) Plugins selbst das Musik machen mit dem Computer beibrachte. 

Bereits Mitte der 2000er-Jahre begannen Freund:innen von Shuoxin auch, mit der neuen Klang-Programmiersprache SuperCollider Musik zu machen. Die hatte damals ein gewisser Julian Rohrhuber mit entwickelt – bei dem Shuoxin Tan heute, knapp zwei Jahrzehnte später, am Institut für Musik und Medien (IMM) in Düsseldorf den Master “Klang und Realität“ studiert.


Bis die gebürtige Pekingerin aber dafür nach Europa auswandert, vergeht noch ein wenig Zeit. Nach dem Bachelor-Abschluss in Shanghai arbeitet Shuoxin zunächst angestellt als Music Producerin für Werbung, Film und Animation und bei einem Social Network für Musikfans namens Douban (hier gleichzeitig mit Li Song). Sie macht sich selbstständig und gestaltet Ton für Theater, Doku-Filme und den chinesischen Ableger des Vice-Magazins, Noisey China. Allmählich aber stellt sich ein Gefühl der Sättigung an Sound Design ein. An ihrem 34. Geburtstag trifft Shuoxin eine Entscheidung: Sie will Sound Art studieren. Über ihre Faszination für die japanische Klangkünstlerin Miki Yui, die in Düsseldorf lebt, stößt sie auf die Kölner Kunsthochschule für Medien und den dortigen Sound-Professor hans w. koch und reist 2019 zur Aufnahmeprüfung nach Köln. Zwar besteht sie diese nicht, doch hans w. koch (“Er kannte mich besser als ich mich selbst.“) empfiehlt ihr, sich am IMM zu bewerben. Das klappt – Julian Rohrhuber wird jetzt ihr Lehrer, doch am 20. Januar 2020, dem Tag von Shuoxins Aufnahmeprüfung in Düsseldorf, geht China als erstes Land in den Corona-Lockdown. Einmal mehr ist es das Internet, mit dem sich Shuoxin Tan mit Gleichgesinnten verbindet und vor der Isolation rettet. Ihr erstes Semester studiert sie remote aus China und lernt ihre Mitstudierenden zunächst am Bildschirm kennen. Zum Wintersemester 2020/21 folgt dann aber endlich der Umzug nach Köln.

In Düsseldorf hat Shuoxin nie gelebt. “Ich bin Kölnerin“, lacht sie. Mit der Kölner Musikszene fühlt sie sich mehr verbunden. Sie schätzt die musikalische und soziale Vielfalt in Köln, und dass man sich vorurteilsfrei begegnet – “auch wenn ich immer ein bisschen outside bin.“ Warum das? “Das Publikum hier möchte immer auch etwas sehen – für mich ist aber die Idee sehr wichtig, sich allein auf das Hören zu fokussieren. Meine Musik beschäftigt sich mit dem inneren Raum – im Kopf, in den Ohren. Deshalb verdunkle ich bei meinen Performances das Licht so stark wie möglich und benutze auch keine Visuals.“ 

Die Musik von Shuoxin Tan ist auf eine Weise sehr transparent – nur selten erklingt mehr als eine Soundebene gleichzeitig. Klangliche Entwicklungen und Veränderungen lassen sich gut nachvollziehen. Shuoxin erzählt, wie sie ihr Mitstudent Dietmar Saxler einmal dazu einlud, das Turmzimmer der Kirche Herz Jesu auf dem Zülpicher Platz akustisch zu erforschen. “Ich habe einfach drei oder vier Sinuswellen mit ein wenig Zufallsfaktoren versehen und in SuperCollider drauf los gespielt. Dietmar war total überrascht und hat mich dann zu seinem Ambient-Festival eingeladen.“ Hier ergab sich im September 2021 eine seltene Situation: Alle drei Mitglieder von [ _  _  _ ] fanden sich am selben Ort ein. In der Krypta der Kirche St. Michael am Brüsseler Platz in Köln spielte das Trio im Rahmen des Ambient-Festivals “Zivilisation der Liebe” ein Live-Konzert mit drei Laptops, sitzend zwischen den alten Säulen und dem Publikum. Als Klangquellen dienten allein die integrierten Lautsprecher ihrer Computer, die wiederum durch eine Software namens OSCjunction miteinander kommunizieren können – wie immer in den Performances von [ _  _  _ ]. Live schicken sich die drei Musiker:innen gegenseitig Zahlenketten zu, mit denen sie den Sound der anderen verändern. “Wir haben einen kollaborativen algorithmischen Mechanismus in SuperCollider aufgebaut, den ich als kompositorisches Tool bezeichnen würde“, beantwortet Shuoxin die Frage, ob [ _ _ _ ] eher improvisieren oder Kompositionen spielen. “Mit diesem Mechanismus spielen wir entweder unser Instrument oder das von jemand anderem im Ensemble.” Beeinflusst sind die drei von der Gruppe The Hub – Urväter der Netzwerk-Musik, die schon in den 1980er-Jahren ihre Rechner miteinander verschalteten, um gemeinsam Computermusik zu machen und ganz ähnlich arbeiteten.  

[ _  _  _ ] beim Ambient Festival in Köln. © Ambient Festival

Zwischen kompositorischen und improvisatorischen Aspekten mäandert auch die Kollaboration von Shuoxin Tan mit der kolumbianischen Flötistin Natalia Molina Bohórquez, die 2022 auf dem Pekinger Label Zoomin‘ Night auf Kassette erschien. Die drei Improvisationen sind Startpunkte für ganz individuelle Hör-Exkursionen, in denen sich der Sound von Laptop und Flöte gegenseitig so durchdringt, dass sie oft gar nicht mehr so genau unterscheidbar sind. Ein besonderer Kniff ist die Aufnahme-Situation, die auch die Geräusche von Shuoxins Tastatur zum Teil der Musik macht. Zwischendurch schaltet sich die vermeintliche Realität durch Live-Zapping am analogen Radio in den imaginären Raum. Was ist was? Was ist echt? Große Fragen, verpackt in eine spielerische, neugierige Musik. Diesen Forschergeist verfolgen die Musikerinnen auf den drei anderen Stücken des Tapes expliziter. Sie beziehen sich auf experimentelle Versuche in Psychoakustik und Körperlichkeit: Im Vorhinein ist festgelegt, auf welchen Frequenzen gespielt wird und welche körperlichen Bewegungen dabei durchgeführt werden. Der Titel der Kassette “Durch den Vorhang gehen” spielt auf die Idee der Akusmatik an, nach der die Klangquelle vom Klang selbst separiert wird. Der griechische Gelehrte Pythagoras hielt seine Vorträge hinter einem Vorhang, damit sich seine Studenten allein auf das Gesagte konzentrieren konnten. Shuoxin Tan und Natalia Molina Bohórquez verstehen diese Hörsituation als etwas Dynamisches, das über eine bloße Platzierung von Klangquelle und Hörenden im Raum hinausgeht – hinein wiederum in den inneren Raum. Im Kopf der Hörer:innen entsteht erst die Realität, der Sinn, den das hörende Individuum dem Gehörten gibt.

Natalia Molina Bohórquez und Shuoxin Tan. Foto: Verena Hahn


Solchen Gedanken geht Shuoxin Tan in ihrem Master-Schwerpunkt “Epistemische Medien“ nach. Welche Erkenntnis können wir aus dem Produzieren oder Hören von Klängen ziehen? Auf welche Weise helfen Kunst und Musik beim Entschlüsseln der Welt? Wie lassen sich Theorie und Kunst miteinander in Einklang bringen? Shuoxin verrät ihr Interesse für abseitige Strömungen der Mathematik, für deren epistemische und esoterische Varianten, die weit in die Kunst und Philosophie hineinragen. Die schwedische Künstlerin C.C. Hennix und der niederländische Mathematiker L.E.J. Brouwer dienen ihr derzeit als wichtige Inspiration – und natürlich auch Jacques Lacan mit seinen Ringen. “Mein Interesse liegt in diesem Zwischen – zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen unterschiedlichen Räumen“, sagt Shuoxin, “ich lerne gerade abstrakte Algebra. Aber ich frage mich auch ganz konkret: Warum zum Beispiel nutzen Leute SuperCollider? Die meisten tun es, weil es ganz cool klingt. Ich tue es aber eher, weil ich dann Gedanken in Zahlen ausdrücken und sie damit verklanglichen kann.“ 

1975 fügte Jacques Lacan seinem Modell einen vierten Ring hinzu: Das Sinthom bindet die Struktur der anderen drei. Psychologisch bildet es eine Art Anker für das Subjekt, mit dem es sich mit der Realität verbinden und an sie anpassen kann. Passt man das Modell auf Shuoxin Tan an, so könnte man jeweils einen Ring für Klang, Mathematik und Erkentnisinteresse modellieren. Ein vierter, der alles zusammenhält und das Künstlerinnen-Subjekt Shuoxin mit der Welt verbindet wäre dann wohl das Netzwerk aller Netzwerke: Das Internet.

Shuoxin Tan wurde in Peking geboren und arbeitet als Komponistin und Klangkünstlerin in Köln. Sie forscht in den Bereichen algorithmische Akustik, Klangontologie und Lacansche Topologie.