Sophie Emilie Beha
Lukas, du bist gerade in Johannesburg, wo du neben Miami und Wien lebst. Wie sieht die zeitgenössische Musikszene in Südafrika aus? Meines Wissens ist es das einzige Land auf dem afrikanischen Kontinent, das eine Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) hat.
Lukas Ligeti
Ja, die IGNM existiert ziemlich genau seit 100 Jahren und hat eine große historische Wichtigkeit. Ich sitze im Beirat einer kleinen Organisation, NewMusicSA, die versucht, neue Kunstmusik in Südafrika zu fördern, und wir sind die südafrikanische – und einzige afrikanische – Sektion der IGNM. Aber ich weiß gar nicht, wie vielen der Komponisten in Südafrika das überhaupt etwas bedeutet. Das Interessante in Südafrika ist, dass es ein Land mit einer sehr lebendigen, afrikanisch basierten Kultur und einer sehr lebendigen, europäisch basierten Kultur ist. Und diese Dinge kommen auf ganz interessante Weise zusammen. Manchmal verfehlen sie sich auch. Und die Verbindung zur IGNM, die aus einer Initiative von Komponisten der Zweiten Wiener Schule in Salzburg gegründet wurde, ist sicher ein Teil der europäischen Verbindung in Südafrika, die für sehr, sehr viele Jahre den Rest von Afrika als ›fly over country‹ betrachtet hat. Aber heutzutage ist es nicht mehr zielführend, eine solche Initiative einer kulturellen Legacy zuzuordnen. Es ist alles viel komplexer. Südafrika ist ein unheimlich kompliziertes Land.
SEB
Wie lässt sich die zeitgenössische Musiklandschaft in Südafrika oder auf dem afrikanischen Kontinent beschreiben?
LL
Was verstehst du unter zeitgenössische Musik?
SEB
Gute Frage, wir sind am Knackpunkt: Entweder die sogenannte Neue Musik, oder alles, was jetzt gerade passiert, also auch Hip Hop, Afrobeat und alles andere. Such dir aus, auf welche Version von zeitgenössischer Musik du deine Antwort beziehst.
LL
Um erst einmal auf die Kompositionen mit Partitur zu sprechen zu kommen: Es gibt eine sehr große Vielfalt von Zeitgenössischer-Musik-Aktivität in Afrika. In Südafrika gibt es schon seit langen Jahren eine nicht sehr große, aber sehr aktive Szene. Die gibt es auch in anderen afrikanischen Ländern, hauptsächlich zentriert um Universitäten und besonders in früheren britischen Kolonien: Nigeria, Ghana, Uganda. Auch in Kenia versuchen Komponisten, die unterschiedlichen Welten zusammenzubringen, indem sie zum Beispiel Ideen von afrikanischen traditionellen Musikformen nehmen und diese dann mit europäischen Instrumenten umsetzen. Das ist etwas, was auch ich schon seit vielen Jahren mache. Meine eigenen Aktivitäten in diese Richtung sind vielleicht etwas anders als die von den meisten Komponisten in Afrika. Denn ich bin sehr stark experimentell orientiert und in meinem Fall finde ich die Einflüsse mehr auf einem konzeptionellen Niveau. Das heißt, in meiner Musik findet man wenig Zitate von afrikanischen Musiktraditionen. Eher stelle ich mir die Frage: Wie kann ich aufgrund von Konzepten in afrikanischer Musik und Kultur unabhängige, neuartige Ideen entwickeln? Viele Komponisten, die aus diesen Traditionen direkter kommen als ich, verwenden erkennbare Rhythmen oder Melodien. Das ist eine Art der Komposition, die leider von der europäischen zeitgenössischen Musikwelt übersehen und ignoriert wird. Man kann sich fragen, warum und da kann man jetzt alle möglichen bösartigen Hypothesen aufstellen. Das möchte ich aber gar nicht unbedingt machen.
SEB
Worum geht es dir dann?
LL
Ich glaube, die Gründe sind eher zweierlei: Das erste ist, dass die Mittel, die diese afrikanischen Komponisten verwenden, oft auch ziemlich traditionell und konventionell klingen. Bei vielen europäischen Festival-Organisatoren existiert die Ideologie, dass das etwas Schlechtes ist. Ein anderer Faktor ist auch, dass sie oft nichts von diesen Komponisten wissen. Die meisten Kuratoren recherchieren nicht viel. Björn Gottstein, der ehemalige künstlerische Leiter der Donaueschinger Musiktage, hat auf einer Konferenz mal gesagt, er hat solche Komponisten bis jetzt nicht programmiert, weil er einfach zu faul war, die nötigen Recherchen zu machen. Und Programmgestalter müssten weniger faul werden. Ich glaube, da hat er vollkommen recht. Es gibt wenig tiefe Recherchen oder Mut zum Unbekannten.
SEB
Worauf muss man bei dieser Recherche achten?
LL
Heutzutage wird viel zu viel soziopolitisch philosophiert. Alles wird auf Rassismus oder andere Vorurteile zurückgeführt. Und das sind in der großen Mehrheit der Fälle ganz oberflächliche Analysen. Da kommt man zu keiner Lösung. Was ich in Afrika über die Jahrzehnte beobachtet habe, ist, dass viele Festivals ursprünglich von Botschaften finanziert wurden. Das hat dazu geführt, dass Diplomaten das Programm gemacht haben, auch wenn sie natürlich nicht offiziell als Kuratoren aufgeführt wurden. Das ist kein Rassismus-Problem, das ist ein Problem der finanziellen Mittel und des Zugangs zu Information. Natürlich kann man nun argumentieren, dass diese ungerechte Verteilung finanzieller Mittel auf gewisse historische Tatsachen zurückzuführen ist. Da muss man aber sehr aufpassen, weil man sich nicht damit begnügen darf, alles auf den Kolonialismus zurückzuführen. Solche Fragestellungen sind wichtig, aber natürlich kommt man damit in der Praxis, wenn man ein Festival kuratieren will, nicht unbedingt weiter. Und ich glaube, wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass die Gründe für manche Präsenzen und Nicht-Präsenzen, manche Arten von Musik oder Künstlern oft ganz andere sind, als diese pauschalisierten, soziopolitischen Debatten es einem nahebringen würden.
SEB
Steht nicht auch oft Kurator:innen hierzulande ein bestimmtes Klischeedenken vom afrikanischen Kontinent im Weg?
LL
Ja, und das ist zu einem gewissen Grad unvermeidlich. Man kann von Künstlern nicht erwarten, dass sie nicht ihre eigenen Klischees präsentieren. Zum einen gibt es viele populäre Musiker in Afrika, die auch in Europa und Amerika auf Tour gehen. Die spielen eigentlich nur für ihre Diaspora. Zum anderen gibt es einen ganz anderen Kreis von afrikanischen Musikern, die bei den Weltmusik-Festivals spielen. Diese Weltmusik-Festivals arbeiten oft auch in Tandem mit den internationalen Kulturinstituten und präsentieren eben eine bestimmte Vorstellung und ein Image von Afrika. Es ist eben nicht das bisherige Konzept von Festivalmachern, dass Afrika ein Gebiet für musikalische Experimente und Waghalsigkeit ist.
SEB
Das wollen du und dein Team mit dem Oluzayo-Festival ändern, richtig?
LL
Wir wollen mit dem Festival ein anderes Bild von Afrika zeigen – auch eines, das von den afrikanischen Gesellschaften vor Ort nicht immer unterstützt wird. Vielleicht weil die Musik, die wir präsentieren, einfach zu seltsam ist. Wir präsentieren Künstler, die unter Umständen sowohl von den internationalen Sponsoren als auch von der eigenen Gesellschaft zu Hause vernachlässigt werden, aber trotzdem sehr interessante musikalische Ideen haben – die nicht unbedingt afrikanisch klingen müssen. Das Festival ist offen für Musik aus Afrika und Musik, die mit Afrika zu tun hat. Solange eine Verbindung mit Afrika da ist, ist es unser Thema – ohne Identitätspolitik.
SEB
Wie setzt sich das Kurator:innen-Team zusammen?
LL
Wir kuratieren das Festival zu fünft. Thomas Gläßer aus Köln ist mir aufgefallen, weil er sehr interessante programmatische Ideen hat und von vielen Dingen weiß, von denen viele andere nicht wissen. Er hat mir auch von vielen Dingen erzählt, von denen ich davor nichts wusste. Und dann gibt es zwei Mitglieder des kuratorischen Teams, die aus Afrika kommen, nämlich die Musiker:innen Nonku Phiri aus Kapstadt und Joseph Kamaru aus Nairobi, der momentan in Berlin lebt. Und der Kulturmanager Ignacio Priego, der eigentlich aus Spanien kommt, aber lange Jahre in Südafrika gelebt hat. Momentan lebt er in Ägypten, er hat aber ganz starke Verbindungen zur südafrikanischen Musikszene und überhaupt im südlichen Afrika. Ich selbst habe viel in Westafrika gearbeitet und in einem kleineren Ausmaß auch in Ostafrika. Insgesamt haben wir so auch den Kontinent etwas abgedeckt und ich glaube, wir sind alle Leute, die nach neuen Möglichkeiten in der Musik suchen und Afrika nicht als ein ausschließlich traditionelles Territorium sehen, sondern als eines, wo sehr viel Neues gemacht wird, experimentiert wird und wo vor allem sehr viel Potenzial ist. Die Kuration dieses Festivals ergibt sich zu einem ganz ordentlichen Teil aus den Vorschlägen, die wir alle eingebracht haben und in langen Gesprächen miteinander abgestimmt haben. Es gab viel Recherchearbeit, bei der wir nach neuartigen Dingen suchen, die noch nicht so bekannt sind in Deutschland oder in Europa. Mit dem Festival wollen wir eine relativ breit gefächerte Übersicht vermitteln über innovative, kreative, experimentelle Musik-Aktivität in Afrika.
SEB
Du hast es vorhin selbst gesagt: Afrika ist extrem komplex. Wie geht man damit um, wenn man ein Festival kuratiert, in dessen Untertitel »Festival für Aktuelle Musik aus Afrika« steht?
LL
Ich glaube nicht, dass ein Festival der unglaublichen kulturellen und musikalischen Vielfalt von Afrika in irgendeiner Form gerecht werden kann. Man zeigt immer ein kleines Fenster auf irgendetwas. Dieses Fenster kann regional oder nach einem bestimmten Musikstil definiert sein, oder sich definieren im Versuch, neue Tendenzen und Möglichkeiten aufzuzeigen. Letzteres soll bei »Oluzayo« der Fall sein, wobei es natürlich keine Garantie ist, dass das in 100 % der Fälle gelingt. Wir machen ja nichts anderes, als Künstlerinnen und Künstler einzuladen, zu dieser Diskussion über die Möglichkeit neuer Musik in Afrika und überhaupt auf der Welt aus einer afrikanischen Perspektive beizutragen. Was da genau herauskommt, weiß ich nicht.
SEB
Zu dieser Haltung passt auch der Open Call, den ihr für das Festival veranstaltet habt. Die Komponist:innen sollten »einen Bezug zu Afrika oder afrikanischen Musiktraditionen« haben. Aus den Einreichungen habt ihr die vier hierzulande völlig unbekannten Komponist:innen Onche Rajesh Ugbabe, Yang Song, Gabriel Abedi und Michele Sanna ausgewählt, die Werke für das Eröffnungskonzert mit dem Ensemble Modern schreiben werden.
LL
Ich glaube, das war das erste Mal, dass es einen Open Call gegeben hat für Musik, die von einem europäischen Ensemble für zeitgenössische Musik gespielt werden soll, sich aber mit afrikanischen Musiktheorien und -praktiken auseinandersetzt. Vergeben wurden Kompositionsaufträge für neue Werke, ich habe also streng genommen keine Ahnung, was bei diesen Kompositionen rauskommt. Die Konzepte dieser Leute haben uns das Gefühl gegeben, dass sie sich auf ernsthafte und kreative Art und Weise mit afrikanischen Fragen oder afrikanische Musik jeweils ganz anders als die anderen auseinandersetzen. Es ist für mich als Kurator wichtig, Menschen Freiraum zu geben, ihnen zu vertrauen und mich überraschen zu lassen. Da ist auch ein bisschen Zufall dabei, weil natürlich diese Komponisten sich nicht untereinander absprechen: wie vielfältig oder einfältig dieses Konzert dann wirklich klingt – ich weiß es nicht. Es ist ein Abenteuer und ich sehe auch so ein Festival als ein Abenteuer. Insofern sind die Kriterien auch sehr flüssig, aber wir bemühen uns in diesem Fall einen internationalen, gewissermaßen panafrikanischen und auch panglobalen Überblick über die musikalischen Beziehungen zwischen Afrika und dem Rest der Welt herzustellen.
»Oluzayo – Festival für Aktuelle Musik aus Afrika« findet vom 31. Mai bis zum 4. Juni in Köln statt. Das Programm umfasst zeitgenössische Orchester- und Ensemblemusik, Klangkunst und elektronische Musik, Jazz und improvisierte Musik sowie transkulturelle Mixturen und indigene Formen.
»Oluzayo« ist Teil von »African Futures – All Around«, das an die ECAS (European Conference of African Studies) anknüpft. Das Projekt beleuchtet die Vielschichtigkeit und Kreativität des modernen Afrika und seiner Diaspora in Panels, Vorträgen, Workshops, Diskussionen, Theater, Film, Musik, Literatur, Kunst und Performances.