NOIES MUSIK
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Zeitung für neue und experimentelle Musik

besuch bei verstummten stadien

Aus Noies 04/24 Juli 2024

Die Fußball-EM in Deutschland rückt die Soundscape des Fußballstadions (und der TV-Übertragung daraus) ins alltägliche Hörfeld. Friedemann Dupelius stellt ihre Grundzüge vor – und hat Stadien in NRW aufgesucht, die für immer verstummt sind.
Glückauf-Kampfbahn, Gelsenkirchen-Schalke
Aus Noies 04/24

instagram.com/duninychus

Text und Fotos: Friedemann Dupelius


Die Soundscape des Stadions setzt sich aus vielen Partikeln zusammen: Fangesänge, Zwischenrufe, Jubel und Buhrufe, Gespräche im Publikum, Rufe der Spieler, Spielgeräusche (Ball-Kick, ratschender Ball im Tornetz, Schiri-Pfeife), Stadionmusik, Lautsprecherdurchsagen usw.).

Von der Antike bis zu den 1960er-Jahren gab es keine Kultur der Fangesänge bei Sportveranstaltungen. Dies änderte sich erst mit der Verbreitung der Popmusik. Bekannte Lieder wurden zu Fangesängen umgedichtet.

Bökelberg, Mönchengladbach – mythisch aufgeladener Fußballtempel, plattgemacht für ein Wohngebiet. 2006 fiel der letzte Flutlichtmast, ein stolzer Anrainer darf den ehemaligen Elfmeterpunkt in seinem Garten wähnen.

Mit dem Aufkommen der Ultrá-Kultur um 1990 gab es eine weitere Entwicklung in den Fankurven: Weg vom spielbezogenen Support (direkte Reaktionen auf das Geschehen im Spiel, einfache Rufe wie »vorwärts!«, »geh drauf!«), hin zum dauerhaften Anstimmen von Fangesängen über 90 Minuten, nur durch Torjubel unterbrochen.

Fangesänge dienen der akustischen Reviermarkierung. Sie wirken identitätsstiftend, u.a. auch in ihrer Abgrenzung zum eher stillen Sitzplatzpublikum (teils als »Event-Fans« oder »Opernpublikum« abgewertet).

In den 2000ern verändert sich die Stadionarchitektur: Offene, ovale Betonschüsseln mit Tartanbahn ums Spielfeld weichen (an den Ecken) geschlossenen Arenen. Fangesänge werden so architektonisch amplifiziert.

Das Fernsehen und die Führungsriege von Vereinen und Verbänden hat ein Interesse an »Stimmung« im Stadion. Bunte Kurven mit emotionalen Gesängen verkaufen sich gut.

Glückauf-Kampfbahn, Gelsenkirchen-Schalke – hier wirbelte der berühmte »Schalker Kreisel« vor rund 100 Jahren. 1973 vom Profifußball aufgegeben, die Tribüne von 1936 steht unter Denkmalschutz.

Die TV-Übertragung eines Fußballspiels ist immer künstlich und inszeniert. Sie unterscheidet sich von der Klangkulisse, die man live im Stadion erfährt. Ein Kick gegen den Ball klingt im Stadion nie so satt, crunchy und komprimiert wie am Fernseher.

Außerhalb Europas gibt es andere akustische Besonderheiten in den Stadien: Man denke an die südafrikanische Vuvuzela, Trommelgruppen auf den Tribünen.

Glückauf-Kampfbahn, Gelsenkirchen-Schalke

»Je mächtiger die Macht, umso stiller wirkt sie«, schreibt Byung-Chul Han 2008. In den vergangenen Jahren sind Fußball-Fans aus Protest verstummt: Mit Stimmungsboykotten verweigern sie sich dem gewünschten Spektakel und protestieren gegen die Kommerzialisierung des Sports oder die Beschneidung von Bürger:innenrechten – teils mit Erfolg: So wurden die unbeliebten Montagabendspiele in den drei deutschen Profiligen wieder abgeschafft.

Sportpark Weidenpesch, Köln – Austragungsort der deutschen Meisterschaftsfinals 1905 und 1910, letztes Spiel hier: 2002, rottet vor sich hin. Im Mai 2024 temporär künstlerisch aktiviert durch Wolfgang Voigts »Rückverzauberung« beim Festival FU24BA7L.

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Friedemann Dupelius. Arbeitet mit Sound und Sprache. Interessiert an Beziehungen von Klang zu Mensch, Fakt und Fantasie. Erforscht die akustische und mediale Gegenwart in Radiofeature, Essay, Interview, Track, Hörstück, Audio Paper und Libretto. Aktiv als Friday Dunard, bei SPA, Brückenmusik und der Night of Surprise.