Von Sebastián Zuleta
In Bolivien nahm die neue Musik ihren Anfang, als der aus Potosí, Bolivien stammende Komponist Alberto Villalpando im 1964 nach La Paz zurückkehrte. Zuvor hatte er in Buenos Aires unter anderem bei Ginastera, Messiaen, Maderna und Dallapiccola studiert. Zusammen mit dem Orchesterleiter Carlos Rosso gestaltete er die lokale Musikszene in Bolivien neu und bildete Generationen von Komponist:innen und Interpret:innen aus – mit der Aussicht auf eine Multiplikatorenwirkung. Ein zentraler Teil seines musikalischen Denkens, das sich in einem umfangreichen und vielfältigen Katalog niedergeschlagen hat, basiert auf der Analyse und Reflexion der akustischen Erfahrungen im bolivianischen Altiplano (Hochland) und anderer Gebiete seines Landes.
Ein weiteres relevantes Ereignis für die Entwicklung der neuen Musik ist die Gründung des Orquesta Experimental de Instrumentos Nativos (OEIN) im Jahr 1980 durch ein Kollektiv von Komponisten, darunter Cergio Prudencio, der dieses Projekt bis 2016 allein weiterführte. Das OEIN hat es sich zur Aufgabe gemacht, neue Musikstücke zu schaffen und zu verbreiten, die für diese Instrumente der traditionellen Andenmusik – beispielsweise verschiedene Arten von Sikus (Panflöten), Quenas, Tarkas, Wankaras – konzipiert sind und auf den klanglichen und formalen Prinzipien dieser Musik basieren. Das OEIN hat im Folgenden eine bemerkenswerte internationale Bekanntheit erreicht. Im Jahr 2000 gründete Prudencio zudem das Programa de Iniciación a la Música (PIM), dessen Ziel es ist, Kinder und Jugendliche mit der traditionellen Musik des Altiplano einzuführen. Derzeit wird das OEIN von einem Vorstand aus Orchestermitgliedern geleitet.
Obwohl sich diese Bewegung hauptsächlich in La Paz abspielt, findet in Cochabamba das einzige Festival der neuen Musik in Bolivien statt, die Jornadas de Música Contemporánea. Seit 18 Jahren wird es – nicht zufällig nach Villalpandos Umzug in diese Stadt – von der Künstlervereinigung ABAICAM organisiert. Seitdem wurden mehr als 250 bolivianische Stücke uraufgeführt.
Casataller, ein von Canela Palacios, Miguel Llanque und Sebastián Zuleta gegründeter künstlerischer Raum und Komponist:innenkollektiv, wurde 2011 in La Paz ins Leben gerufen und bringt verschiedene Produktions-, Ausbildungs-, Forschungs- und Verbreitungsprojekte hervor. Dazu gehören das Ensamble Maleza und das Conjunto Muruqu, die sich der Untersuchung und Aufführung neuer Musik bzw. traditioneller Musik des Altiplano widmen; die Escuela de Composición (Kompositionsschule), die verschiedene, bis zu zweijährige Kompositionskurse anbietet, das Laboratorio de Música Experimental (LME), die Reihe von Alben mit neuer bolivianischer Musik Ulupika und das Projekt Música Contemporánea Boliviana (MCB), das Kompositionswettbewerbe und Kompositionsaufträge für neue Stücke organisiert.
Darüber hinaus hat eine neue Generation Projekte wie Ensamble Inmediato und Boca Negra hervorgebracht, mit Tendenzen zur Verwendung von nicht-konventionellen Instrumenten und Elektronik.
All diese Erfahrungen haben zu einem großen Wachstum geführt, und das aktuelle Panorama der neuen Musik in Bolivien ist von einer Vielfalt an Stimmen, Visionen und klang-musikalischen Ausdrucksformen geprägt. Der Einfluss der westlichen Neuen Musik war und ist immer präsent, wenngleich seine Wirkung aufgrund begrenzter Informationen und des Ideals der Schaffung kollektiver – national, lateinamerikanisch – künstlerischer Identitäten in einigen Fällen auch begrenzt war. In vielen anderen Fällen war das Modell natürlich einfach westlich und anachronistisch.
Die Beschreibung einer Interpretation der Umwelt ist eine wiederkehrende Geste in der neuen Musik in Bolivien. Die Vitalität der Aymara-Quechua-Klangpraktiken hat das bolivianische Musikschaffen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst und sie ist immer noch, wenn auch in erneuerten Formen, sehr präsent. Musik für Orchester, Kammermusik und für Soloinstrumente basiert auf charakteristischen Elementen der traditionellen Andenmusik. In einigen Fällen aus einer universalistischen und folkloristischen Perspektive, in anderen aus einem avantgardistischen und konzeptionellen Ansatz heraus.
Wie man sich vorstellen kann, gibt es jedoch auch eine enorme Prekarität in Bezug auf instrumentale, technische und infrastrukturelle Ressourcen; ein fast nicht vorhandenes Bildungsangebot, das zu einer unzureichenden musikalischen Ausbildung und einem Mangel an Musikern und Ensembles führt; ein fast völliges Fehlen staatlicher oder privater Unterstützung für nicht-kommerzielle künstlerische Projekte. Das Ergebnis dieser sozioökonomischen Unterschiede war einer der leicht greifbaren transversalen Kontraste während der Produktion der Konzerte, die Teil des Projekts WERK STATT waren:
Zwischen 2023 und 2024 haben das Komponist:innenkollektiv Casataller aus La Paz und das Kölner Ensemble hand werk das Kooperationsprojekt WERK STATT entwickelt. Teil des Projekts war die Vergabe von Kompositionsaufträgen an fünf bolivianische Komponist:innen. Ihre Stücke wurden gemeinsam erarbeitet und mit hand werk in La Paz, Köln und Freiburg aufgeführt. Ergänzt wurden diese fünf Uraufführungen zum einen durch ein zweites Konzert mit aktuellem Repertoire und einen Workshop zu zeitgenössischen Techniken, den die Mitglieder von hand werk in La Paz durchführten, und zum anderen durch Seminare zu bolivianischer Musik, die zwei der Komponisten an der Hochschule für Musik Freiburg gaben. Es war eine große Herausforderung in Bezug auf Ressourcenmanagement und logistische Organisation, für die wir die Kofinanzierung und Unterstützung mehrerer Institutionen erhielten.¹
Was eine routinemäßige Projektdurchführung sein könnte – die Vergabe von Kompositionsaufträgen an ein Ensemble – erhielt durch den kulturellen Austausch zwischen zwei so unterschiedlichen Kontexten wie dem deutschen und dem bolivianischen eine differenzierte Bedeutung und einzigartige musikalische Ergebnisse für beide Umgebungen.
Auf einer weiteren Ebene führte Zusammenarbeit zwischen hand werk und Komponist:innen, die in La Paz leben und arbeiten, auch zu interessanten Eindrücken darüber, wie ein Kontext den anderen betrachtet und wie dies den Blick auf das Eigene zurückwirft. Gepaart ist dies mit der Perspektive der Aufführung der Stücke sowohl in Bolivien als auch in Deutschland – mit selbstverständlich unterschiedlichen Rezeptionen. Während die oben beschriebenen Einschränkungen im Musikschaffen in Bolivien auf der einen Seite die Kreativität anregen, über alternative instrumentale Lösungen – traditionelle oder nicht-konventionelle Instrumente, Elektronik – nachzudenken, ermöglichte die Arbeit mit einem technisch und interpretatorisch hochqualifizierten Ensemble wie hand werk zum anderen, Ideen außerhalb des Kontextes des normalerweise Möglichen vor Ort in Bolivien zu konzipieren. Die Pierrot-Besetzung mit Schlagzeug wird in der Arbeit des Ensembles hand werk häufig und gerne um alternative Instrumente wie etwa Alltagsgegenstände oder Selbstgebautes erweitert. Die Tatsache also, dass ad-hoc-Instrumente in beiden Kontexten eine wiederkehrende Praxis sind (dies jedoch aus unterschiedlichen Gründen), lud uns dazu ein, sie in den Mittelpunkt des Treffens zu stellen. Zu sehen und zu hören waren modifizierte oder nachgebaute traditionelle Instrumente, Spielzeug, objets trouvés, Objekte zum Zusammenbauen und Zerlegen sowie elektronische Medien, die von den Klängen der populären und traditionellen Andenmusik inspiriert waren.
Verstockte und abwechslungsreiche Wiederholungen, kleine kreisförmige Module, die statisch an ihrem Platz drehen, melodische Konstruktionen durch die Abwechslung von zwei Musikern oder Gruppen, üppige Überlagerung von ungleichen Harmonien, Stimmungen und Klangfarben sind einige der formalen Prinzipien, zeitlichen Konzepte und Mittel der Interaktion, die in diesen Stücken angewandt werden. In ihrer interkulturellen Interaktion mit deutschen Musikern und Zuhörern bieten sie interessante Reflexionen über den aktuellen Stand dieser Spannungsfelder.
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Sebastián Zuleta ist ein bolivianischer Komponist und Mitglied des Komponist:innenkollektivs Casataller, der für die Mit-Koordination des Projekts WERK STATT verantwortlich war.