NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

brief an hochschulleitungen und ministerien: einige vorhaltungen über nachhaltigkeit

Aus Noies 05/23 September 2023

Musikhochschulen sind die Hauptakteure in der Spitzenförderung und professionellen Ausbildung für den klassischen Musikbetrieb. Die Produktion künstlerischer ›Eliten‹ geht jedoch einher mit einem beruflichen Prekariat, das einerseits vielen Absolvent:innen droht, andererseits bereits im Lehrpersonal der Institutionen zu finden ist. Wendelin Bitzan fragt: Sind Musikhochschulen in ihrer Personalpolitik nachhaltig (genug)?
Aus Noies 05/23

wendelinbitzan.de

Viele Menschen, die als Lehrende an den 24 deutschen Musikhochschulen arbeiten, gehören zum akademischen Prekariat, auch wenn sie dies selbst vielleicht nicht so formulieren würden und ohne dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung so gesehen würden. Neben voll abgesicherten Professor:innen und einem (zahlenmäßig deutlich geringeren) akademischen Mittelbau ist dies vor allem die Gruppe der Lehrbeauftragten – hochqualifizierte Musiker:innen ohne feste Arbeitsverträge, die mit ihrem künstlerischen und pädagogischen Wirken die Hochschullehre maßgeblich prägen, aber weitgehend ohne soziale Absicherung (Ausnahme: Nordrhein-Westfalen), ohne Lohnfortzahlung bei Krankheit und ohne berufliche Weiterentwicklungsperspektiven auskommen müssen. Lehraufträge sind in der Regel auf ein Semester befristet, werden in einem einseitigen Verwaltungsakt erteilt, der keine Mitgestaltung der Arbeitsbedingungen durch die Auftragnehmer:innen erlaubt, und meist mit Stundensätzen zwischen 30 und 40 Euro vergütet – zu wenig für ein faires, betriebswirtschaftlich kalkuliertes Freelancer-Einkommen. Eine verlässliche Karriere- und Familienplanung ist so nicht möglich, insbesondere nicht für Menschen, die einen Großteil ihres Einkommens aus Lehraufträgen erwirtschaften; und von diesen gibt es nicht wenige.

Mit der massiven Überstrapazierung des Instruments Lehrauftrag wird eine an sich charmante Idee pervertiert: Als flexible Lösung, um wechselnde Bedarfe oder kleine Fächer, für die keine festen Stellen oder Professuren finanziert werden können, abzudecken, sollten Lehraufträge ursprünglich mit renommierten Musiker:innen besetzt werden, die neben einer Festanstellung in Orchestern oder an Theatern ihre Erfahrungen an Musikstudierende weitergeben. Dass Lehrbeauftragte nicht nur zur Ergänzung, sondern hingegen zur Sicherstellung des Lehrangebots eingesetzt werden, wie es an vielen Musikhochschulen mit Lehrauftragsquoten von 40–60 % am Gesamtumfang der erteilten Stunden der Fall ist, war nie vorgesehen, ist aber seit mehreren Jahrzehnten unrühmliche Praxis. In manchen Fächern, etwa Korrepetition, Musiktheorie und Gehörbildung sowie in den Nebenfächern Klavier und Gesang, sind sogar zum größten Teil Lehrbeauftragte im Einsatz. Da die Landeshochschulgesetze in der Regel vorsehen, dass Lehraufträge einen Umfang von ca. 10 Semesterwochenstunden nicht überschreiten dürfen, nehmen viele Dozent:innen Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen wahr und pendeln wöchentlich viele Hunderte Kilometer durch das Land. (Einer meiner Bekannten hat tatsächlich fünf Lehraufträge und unterrichtet an jedem Werktag in einem anderen Bundesland; wie er das physisch und psychisch bewältigt, ist mir ein Rätsel.)

Wenn Nachhaltigkeit im Hochschulbetrieb thematisiert wird, denkt man zunächst vermutlich an Fragen des Energieverbrauchs, Hörsaalkapazitäten oder die Digitalisierung der Lehre. Deutlich weniger Aufmerksamkeit gibt es für systembedingte Probleme im Bereich der Human Resources, die aus dem überdimensionierten Einsatz von Lehraufträgen sowie anderer prekärer akademischer Tätigkeitsverhältnisse entstehen (vgl. auch das durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz beförderte Befristungsunwesen an Universitäten, von dem vor allem Promovierende und Postdocs betroffen sind) – massive Personalfluktuation, unverhältnismäßige und oftmals irrationale Reiseaktivität, akademische Perspektivlosigkeit und mangelnde Sicherheit in der Karriere- und Lebensplanung. Die aktuelle Situation erweist sich nicht nur als minimal nachhaltig, sondern auch oftmals als schlicht unwürdig gegenüber den Protagonist:innen.

Ein ursprünglich plausibles Konzept ist also offensichtlich völlig entgleist. An dieser Stelle möchte ich einen Appell an die Hochschulleitungen und Kunst- und Wissenschaftsministerien richten: Müsste hier nicht sofort gegengesteuert werden? Im derzeitigen System werden hochqualifizierte und hochmotivierte Arbeitskräfte in großer Zahl verheizt, die häufig erst zu spät (oder im schlimmsten Fall gar nicht) realisieren, dass sie massiv ausgebeutet werden. Die Exzellenz der Meisterklassen und Konzertexamina, mit denen sich die Hochschulen schmücken, wird auf dem Rücken derjenigen Kolleg:innen erzielt, die sofort ersetzt werden können, wenn sie die untragbaren Umstände nicht mehr hinnehmen wollen – denn das System ist selbsterhaltend, indem es jederzeit ausreichenden Nachwuchs für das Lehrprekariat produziert. Noch dazu wird für die derzeitigen Studierenden eine ebenso zweifelhafte Zukunftsperspektive geschaffen, wie sie die Lehrbeauftragten erleben; dies gilt vor allem für Fächer wie Klavier oder Gesang, in denen keine Orchesterstellen (deren Zahl stetig weiter abnimmt) verfügbar sind und die Absolvent:innenzahlen weit über dem Bedarf des Arbeitsmarkts liegen. Umgekehrt leiden Bereiche wie das Lehramt Musik und die Instrumental- und Gesangspädagogik, in denen ein großer Fachkräftemangel herrscht, unter eklatanten Missverhältnissen der Studienplatz- und Bewerber:innenzahlen, verglichen mit den künstlerischen Hauptfächern. Diese Situation ist das Ergebnis einer einseitigen, zu sehr auf Elitenförderung ausgerichteten Bildungspolitik und Symptom für den kurzsichtigen und verantwortungslosen Umgang mit hochqualifiziertem Lehrpersonal.

Die letzten, durch veränderte Gesetzeslagen oder neue Hochschulfinanzierungsvereinbarungen bewirkten Anpassungen wie die Deckelung des Lehrauftragsanteils auf 30 % bzw. 27 % an Musikhochschulen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg bewirken keine maßgeblichen Änderungen, sondern schreiben das System prekärer künstlerischer Lehre weiter fort, lediglich in etwas geringerem Umfang. Tiefergehende strukturelle Erwägungen erscheinen notwendig: Sollen Lehraufträge Karrieresprungbretter sein, also eine erste Qualifikationsstufe darstellen und in befristete oder feste Anstellungen an den jeweiligen Hochschulen münden können? Dann müssten entsprechende Nachhaltigkeitskonzepte entwickelt und in die akademischen Strukturen implementiert werden (etwa nach Art eines Tenure-Track-Programms für die künstlerische Hochschullehre). Oder soll ein – angesichts der Entwicklung des Arbeitsmarkts höchst relevantes und auch von Career Centern zunehmend thematisiertes – künstlerisches Entrepreneurship gefördert werden, bei der die Auftragnehmer:innen mit allen Risiken, aber auch Privilegien der Freiberuflichkeit (Beauftragung nach individuell erstelltem Angebot, freie Arbeitszeitgestaltung, Tätigkeit ohne Verdacht auf Scheinselbstständigkeit) eingesetzt werden? Dann wäre zunächst, unter Berücksichtigung realer betrieblicher Kosten und Rücklagenbildungen, eine Verdopplung der Honorarsätze angemessen. Erforderlich ist zudem ein Umdenken in der Haushaltspolitik der Hochschulen: Lehraufträge sollten aus Personalmitteln und nicht, wie es bisher meistens der Fall ist, aus Sachmitteln finanziert werden. Diese Schritte könnten zu einer echten Verbesserung der Situation führen.

Wendelin Bitzan ist Musiker, Musikforscher und digitaler Urheber. Er unterrichtet Musiktheorie und Musikwissenschaft an Hochschulen, spielt gelegentlich an öffentlichen Orten Klavier, redet und schreibt leidenschaftlich gern über Musik und setzt sich für die Interessen freischaffender Musiker:innen ein.