NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

noies chimären sophie emilie beha: am puls der zeitlupe

Juni 2023

Sophie Emilie Beha wird von April bis Juni als NOIES Chimäre hybride journalistische Formen austesten. In ihrem zweiten Beitrag untersucht sie die Langsamkeit – im Klang und im geschriebenen Wort.
Zeichen für eine Generalpause in der Musik.

AM PULS DER ZEITLUPE
Von Sophie Emilie Beha

? Der Soundtrack für diesen Text: John Cage – ORGAN²/ASLSP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Am Anfang war ja das Wort, wie uns allen gepredigt wurde, aber was war davor? Klang zergeht auf meiner Zunge. Ich bleibe stehen und höre der Langsamkeit zu. Sie fliegt … in Zeitlupe ..… tss – ääh – e … Leichh – tichh – keiit … flächh – änn – dää – ckännd – f – f – f –  –

Freiheit oder Frechheit – wie langsam kann man einen Text schreiben? Oder besser gesagt: Wann hört ein Fluss auf zu fließen – vor dem Wehr staut sich die Suppe – man müsste da mal ein Hydrophon eintauchen – und wann endet ein Satz                                                                                                                                            

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Wie lange lange lange lange klingt dieses Lied? Seit 1772, bis zum Pausieren des Videos, seit ein Sklavenhändler mit wackeligen Knien den Text verfasst hat, seit der protestantischen Erweckungsbewegung Anfang des 19. Jahrhunderts oder bis zur Bürgerrechtsbewegung der 50er/60er-Jahre – während ich das als Teenager auf dem Gemeindefest singe oder bei Aretha Franklin, Mahalia Jackson, Johnny Cash, der Amtseinführung von Joe Biden, wenn Obama bei der Trauerfeier des Attentats von Charleston singt? Wann endet ein Atem? Wieso geht er nicht weiter? Wann ist ein Stück vorbei? Wenn die Hallfahne nicht mehr weht? Wenn die Schublade, in der das Manuskript verborgen wartet, vermodert ist? »Du fragst zu viel.«

Bei Γλωσσα iiinnnbrrrüüünnnsssteeennn wir manchmal den sogenannten Nanana-Score. Er will im Grunde nichts anderes, als dass alle aus einer Gruppe gleichzeitig einen Popsong – hier kann sich jede:r selber einen aussuchen, ohne sich abzusprechen – aus vollem Herzen und dabei in Zeitlupe singen. Das klingt ungefähr wie ein Meer aus Üübbeerrsscchhwwaannggsseenntthhuussiiaassmmuusskkaauugguummmmii. Mir fällt kurz davor aber immer keiner ein, in meinem Kopf tönt Wwaattttee und dann erfinde ich meistens einen Popsong im Moment, der wie eine Mischung aus Hyperpop und Britney Spears klingt, aber das höre nur ich. Oder ich erinnere mich an eine einzige Zeile wie »All you need is love«, die ich immer wieder wiederhole zwischen nn und aa.

Zeit in einer Glaskugel wölbt sich, anders als bei BAZi und ähnlich wie ein Auge, das sich in einem Löffel spiegelt … ein Augenblickswimpernschlagsshutter … die Dauer eines Windhauchs samt Decrescendo … a Room of Ones Own … eine Fluse steigt auf und das Fenster steht offen … Die Gesellschaft des Spektakels … Duett mit einer Stubenfliege … das, was entsteht, ist mehr, als das, was mensch hört – der R a u m zwischen den Buchstabenkanten. Echo – cho – ho – o –  –  – 

Der Bodensee, gefilmt von Sophie Emilie Beha

Die Antwort ist verwässert trotz Hydrophon – Zugucken wie ein Schwanenschwarm sich quer durch das Sichtfeld schiebt – Warten auf Godot – tausend Töne Blau – unerkannte Zitate – Worte wie Wellen – Schwäne von rechts nach links :||

Wusstest du, dass dort die Felchen fast ausgestorben sind? Verstreute Atome, die sich wie Flechten über einen morschen Ast ziehen. Es folgt endloser Wald – Bäume wie Wellen umsäumen Wälder wie Mäntel schmiegen sich an grüngrüne Wellenberge. Hinter tausend Stämmen keine Welt, aber hinter tausend taufrischen Weizenhalmen ein Motiv, eine Folie, zumindest für ein Stockvideo. Bäume sehen aus wie Raupen, bauchig jedes Element, dick und rund, langsam schwenken sie von einer Richtung in die andere. Alles ohne Metapher und Sehnsuchtslandschaft, alles samtig weich, alles zum Reinlegen, so weit das Auge reicht. Bis die Traubeneiche auf Höhe meines Halses 50cm dick ist, dauert es 175 Jahre. Wipfel, Kuppen wie Kappen schmelzen mit langem Atem in die schwere Erde. Jeder Name sollte diesen Atem haben.

Die auf Widerruf gestundete Zeit schafft R a u m für Utopie. Lässt wei-te Verbindung-en in die Ferne deuten. Aufbauen. Einsickern. Zeitlose fallen mit versöhnender Gebärde. Formen taumeln zwischen den Zeilen.

Klang ver-steht S( )und und hinterlässt einen Abdruck in den vergangenen Stunden – wie schattende Baumzweigenblätter auf einem weißen Sonnensegel.

Sophie Emilie Beha arbeitet in verschiedenen Kontexten, darunter Musik, Text, Sprache, Kuration, Improvisation, Dramaturgie und Poesie. Sie ist Autorin und Moderatorin für verschiedene öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Außerdem schreibt sie regelmäßig für Zeitungen und verschiedene Fachzeitschriften.

Ihr Fokus liegt auf zeitgenössischer sowie transtraditioneller Musik, Jazz und Klassik. In Köln kuratiert Beha Konzerte und Festivals im Stadtgarten und hat das interdisziplinäre Festival guterstoff mitgegründet. Außerdem ist sie Dramaturgin des Sänger*innenkollektivs PHØNIX16 in Berlin und Mitglied des experimentellen Vokalensembles Γλωσσα (Glossa), mit dem sie 2022 das Karl-Sczuka-Recherchestipendium gewonnen hat.

Im Jahr 2021 wurde sie für den Preis für deutschen Jazzjournalismus nominiert und seit 2022 wird ihre kuratorische Tätigkeit von NICA artist development gefördert.

Sophies AI Chimärenporträt basiert auf einem Foto von Judith Wiesrecker und den Antworten von Sophie auf folgenden Fragebogen:

Wenn du in einer anderen Zeit leben könntest, welche wäre das?

Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris (oder ist das zu ungenau?)

Was ist deine Lieblingsjahreszeit?

Frühsommer

Wenn du ein Tier wärst, welches wäre das?

Eine Gämse