NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

noies chimären sophie emilie beha

Mai 2023

Sophie Emilie Beha wird von April bis Juni als NOIES Chimäre hybride journalistische Formen austesten. Der erste Beitrag ist ein Text über Wut. Der Versuch, mit Sprache Musik zu machen, Wut mit musikalischer Sprache zu untersuchen, den Klang von Wut zu befragen.

WUT
Von Sophie Emilie Beha

»Woman must write her self: must write about women and bring women to writing, from which they have been driven away as violently as from their bodies – for the same reasons, by the same law, with the same fatal goal. Woman must put herself into the text.« – Hélène Cixous, The Laugh of the Medusa

Wut wütet in mir. Spannt meine Haut und tost – da, wo mein Brustbein aufhört.
Diese Wut ist nicht wahllos sondern entschieden. Pfeilgerade zielt sie genau wohin, visiert das Ende der Phrase und verharrt im Moment. Sie dehnt sich aus, zittert. Strebt zum Crescendo und reißt dabei alle Zwischentöne mit. Sie spannt sich auf zwischen absoluter Stille und endlosem Krach.

Nimm dein Ohr und lege es an einen Auspuff.
Eine vereinzelte Pauke, zwei Töne, unablässig, unbarmherzig wachsen sie, schwellen an ins FFF !!!1!!1!!!!!!!!
Wassermassen donnern an Küstenklippen, zerschellen und kriechen zurück in das Schneckenhaus, aus dem sie gekommen sind.
Ein Gitarrenhändler, der richtigerweise des illegalen Tropenholzhandels bezichtigt wurde, schlägt seine Schätzchen kurz und klein. Korpusse bersten und Splitter fliegen durch die Luft.
Eine Spitzhacke trifft auf Stein.
Ein Orchester aus Noise-Künstlerinnen umschließt mich. Jeder Laut, jeder Gedanke, wird von ihnen untermalt, übermalt, kurzundquergekritzelt.
Wie laut kann ich schreiben? Das hier soll schließlich gehört werden.

Dieser knallendrote Faden bläht sich durch alle Phrasen, alle Linien, jedes Cluster. Er schnaubt, weil er keine Pausen macht und zischelt jedem Vorzeichen, egal wie aufgelöst es ist, verächtlich zu. Mit der Geradlinigkeit eines Mähdreschers und der Endgültigkeit eines Applauses zürnt er durch die Takte. Er weiß nicht, was er will und nur wohin. Schwarz kläfft die Bühne, saugt jeden Klang ein und schluckt hörbar.

Ich rase. Wie ein Zug pflüge ich durch Landschaften. Alles verschwimmt. Alles verquirlt zu fleckenhafter Masse. Alles jagt an mir vorbei und pocht. Ich hinterlasse einen zittrigen Kreidestrich auf der Tafel, das Kreischen steckt noch in meinen Ohren. Mein Gesicht ist eine Brutalismus-Fassade. Niemand hier hört Beethoven.

Ausatmen. Ein Röcheln und Raspeln, Auskratzen, Stimmen, die sich aneinander abschleifen, ein Vierkantreibenchor. Meine Wut sagt, was meine Worte nicht gelernt haben. Meine Wut schreit, wo meine Stimme singt. Meine Wut tanzt und springt und wirft etwas zu Boden.

Du tönst wie eingebildetes Blech, du sprichst, bevor du zuhörst, verteilst deine Kommas überall, gibst den Takt an, ohne deinen Kopf zur Partitur zu neigen, wirfst alle Vorzeichen über Bord. Wird dir das Feedback zu laut, hältst du dir die Ohren zu.  

Wut kommt auch mit verschleppter Leere – der Lücke zwischen zwei Häusern – Ab – stand, der gähnt wie ein Orchestergraben im Erdkern. Wut weicht und weicht nicht aus in tränende Trägheit und schiefe Schwere. Bummmmmm. Wut kippt, in Sorge, großen Fragen, dem Streben nach Dur, kackverdammte picardische Terz. Das sind die Obertöne, die ich verschlucken will.

Ich wüte. Ich wüte für mich. Ich umstürme. Ich bin zurückgekehrt und habe rote Fäden in meinen Körper geknotet. Ich kann euch ein Lied singen.

Sophie Emilie Beha arbeitet in verschiedenen Kontexten, darunter Musik, Text, Sprache, Kuration, Improvisation, Dramaturgie und Poesie. Sie ist Autorin und Moderatorin für verschiedene öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Außerdem schreibt sie regelmäßig für Zeitungen und verschiedene Fachzeitschriften.

Ihr Fokus liegt auf zeitgenössischer sowie transtraditioneller Musik, Jazz und Klassik. In Köln kuratiert Beha Konzerte und Festivals im Stadtgarten und hat das interdisziplinäre Festival guterstoff mitgegründet. Außerdem ist sie Dramaturgin des Sänger*innenkollektivs PHØNIX16 in Berlin und Mitglied des experimentellen Vokalensembles Γλωσσα (Glossa), mit dem sie 2022 das Karl-Sczuka-Recherchestipendium gewonnen hat.

Im Jahr 2021 wurde sie für den Preis für deutschen Jazzjournalismus nominiert und seit 2022 wird ihre kuratorische Tätigkeit von NICA artist development gefördert.

Sophies AI Chimärenporträt basiert auf einem Foto von Judith Wiesrecker und den Antworten von Sophie auf folgenden Fragebogen:

Wenn du in einer anderen Zeit leben könntest, welche wäre das?

Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris (oder ist das zu ungenau?)

Was ist deine Lieblingsjahreszeit?

Frühsommer

Wenn du ein Tier wärst, welches wäre das?

Eine Gämse