Text: Molnár Barnabás
Übersetzung: Nathalie Szende
Originalveröffentlichung auf mmn-mag.hu
Denn was ist Punk? Eine Musik, eine Weltanschauung, ein Zustand des Seins? All dies auf einmal oder nichts von alledem? Wie der Titel des Buches andeutet, ist Punk nie das, was andere sagen, sondern bedeutet für jeden Menschen etwas anderes. Etwas, das die Wut und Verzweiflung, die das wahrgenommene oder tatsächliche Punk-Dasein nähren, aus unterschiedlichen Quellen bezieht und die Reize, die darauf einströmen, durch unterschiedliche Filter verarbeitet und transformiert.
Es gibt keine allgemeingültige Definition, die für alle gleich gut passt – es gibt so viele verschiedene Arten von Punk, wie es Punks gibt. Um den ungarischen Punk als Phänomen zu begreifen und zu interpretieren, müssen wir zunächst verstehen, woher er kam und wie er zu einem Phänomen wurde, das sich ohne jegliche Übertreibung durch die ganze Welt bewegte.
Die breite Öffentlichkeit, die nur den Namen des Genres kennt und dieses im Allgemeinen außerdem ablehnt, kennt die Erzählung, dass der Ursprung des Punks im Vereinigten Königreich liegt. In der Tat begann der Punk von dort aus seinen Siegeszug um die Welt, aber seine wahren Wurzeln liegen in Übersee. Sie liegen in der Arbeit von Künstler:innen, die in der Gegenkultur der sechziger Jahre aufgewachsen sind, aber schon seit Langem von ihr desillusioniert waren. Zu hören sind sie auf den Alben sogenannter Proto-Punk-Bands wie The Velvet Underground, die in Andy Warhols Factory entstanden und von Lou Reed und John Cale angeführt wurden, oder dem weniger bekannten, aber avantgardistischeren Pol des Punk-Spektrums, wie beispielsweise der Vorgängerband von Pere Ubu Rocket From The Tombs. Nicht zu vergessen der menschenförmige Außerirdische, der als einer der Paten des Punk bekannt ist: Iggy Pop und seine Band The Stooges. Und natürlich: die Ramones. Dann gab es noch die Surf-Bands der sechziger Jahre, wie The Ventures, und die Garage-Rock-Bands, die die Psychedelik der sechziger Jahre mit kratzigen Gitarren mischten, wie The Sonics. Nicht zu vergessen sind auch die experimentellen Künstler:innen wie Frank Zappa oder Captain Beefheart und dessen Band The Magic Band. Sie alle sind bis zu einem gewissen Grad für die Entstehung des Punk verantwortlich – dem widerspenstigsten Aufmüpfigen aller härteren Genres.
Die Hauptwelle, die allen bekannt ist, kam zwar aus dem Vereinigten Königreich, aber die umfassende Wut der britischen Punks ist viel weniger eine Reaktion auf abstrakte Probleme als eine wütende Antwort einer verarmten Generation, die nicht in der Lage ist, sich selbst zu finden oder zu erhalten, sowie auf die negativen Trends der Gesellschaft. Die Jugend, die vor hilfloser Wut über ihre eigene Hoffnungslosigkeit kochte, konnte sich nicht mehr mit progressiven Rockbands wie Pink Floyd oder Led Zeppelin identifizieren, die damals auf dem Höhepunkt ihrer Popularität standen. Sie kamen mit den endlosen Schlagzeug- und Gitarrensoli nicht zurecht und konnten sich nicht mit den abstrakten Texten anfreunden, geschweige denn mit den reichen, prominenten Musiker:innen, die die Held:innen dieser Musikrichtung waren. Ein neuer Anreiz musste her.
Das neue Rezept war schnell gefunden: repetitive, schnelle und primitive Beats, zwei oder drei kräftige Akkorde, wummernde Bässe, Weltschmerz, eine inhärente Auflehnung gegen alle traditionellen bürgerlichen Werte, gegen die institutionelle Macht (und gegen die Monarchie selbst), ein unter jeglichen Umständen ausgestreckter Mittelfinger, der allen ins Gesicht gestreckt ist. Einige der prominentesten, wenn auch bei weitem nicht unantastbare Vertreter dieser Linie und dennoch der Bezugspunkt für alle, die das Genre gerade erst kennenlernen, sind die clever vermarkteten, von Gründung an ausverkauften, aber immer noch relevanten Sex Pistols, von denen wahrscheinlich jede:r schon einmal gehört hat.
Es wird immer wieder darüber diskutiert, inwieweit die Sex Pistols als Phänomen eine echte rebellische Kraft waren oder inwieweit sie lediglich ein vorgefertigtes Produkt des Bandpromoters Malcolm McLaren waren. Ganz zu schweigen von dem durch Vivianne Westwood kreierten Punk-Looks, für den die Sex Pistols einen der Prototypen für die Designerin darstellten.
Es liegt nicht an uns, über ihre Authentizität zu urteilen, und im Nachhinein ist das wahrscheinlich auch nicht interessant. Wichtig ist, dass die Sex Pistols als größte, populärste und berüchtigtste Band der Szene der direkte Vorläufer und Hauptantreiber für die hilflose Wut der Punkszene waren, die sich langsam hinter dem Eisernen Vorhang ausbreitete und formierte, mit anderen Ursprüngen, getrennten Zugängen, aber mit ihren westlichen Gegenstücken verwandt, nicht zuletzt, weil ihre Musik im Ostblock am zugänglichsten war.
Wenn man über den ungarischen Underground spricht, kommt man um den Namen Trottel Records nicht herum: Das Label wurde Anfang der 90er Jahre von Ildikó Asztalos und Tamás Rupaszov gegründet, wobei letzterer die treibende Kraft hinter der gleichnamigen Band Trottel ist, deren Wurzeln im Punk und Hardcore liegen, die aber frei zwischen verschiedenen Genres wandelt. Trottel Records ist eines der traditionsreichsten unabhängigen ungarischen Platten- und Buchlabels, das sich seit seiner Gründung zum Ziel gesetzt hat, das Erbe der ungarischen Punk-, aber auch der Hardcore- und Alternativszene zu bewahren und so viel wie möglich davon zu archivieren.
Als Péter Dragojlovics, der Autor des inzwischen eingestellten passzio.hu, im Sommer 2023 mit zwanzig wichtigen Interviews an Rupaszov herantrat, um eine alternative Publikationsform für sie zu finden, konnte er nicht ahnen, dass daraus innerhalb weniger Wochen die Idee für ein Buch mit Reportagen über das Punkleben in der Kádár-Ära entstehen würde. Das Endprodukt ist ein umfangreiches Buch von über 400 Seiten, das weit mehr als nur eine Erzählung ist. Rupaszov bezog auch Béla Ács-Tari, Lehel Szabó, Balázs Szabó, Mihály Rácz, Zsuzsa Máté, Tibor Vizler und Zoltán György in das ehrgeizige Projekt ein, um ihm dabei zu helfen, die unglaubliche Menge an Erinnerungen und Rohmaterial zu einem Buch zusammenzufügen. Darüber hinaus hat Rupaszov, der selbst ein fester Bestandteil der Punkszene der Kádár-Ära war, auch viele Musiker:innen von damals ausfindig gemacht, was an sich schon eine enorme Aufgabe darstellte, denn die Kulturpolitik der Kádár-Ära versuchte, den Aufstieg des Punks in Ungarn so stark wie möglich zu unterdrücken. Aus diesem Grund gab es viele Bands, die nie die Chance erhielten, eine Demo aufzunehmen. Ganz zu schweigen von denen, die Mitte der 1980er Jahre entweder den Punk aufgegeben hatten, zur Emigration gezwungen waren oder sich einfach für die Dissidenz entschieden. Wie Barangó von QSS sang:
“Auf unserer Stirn das Wasserzeichen, ins Bewusstsein ist es tätowiert
Die leninistische Ideologie ist die Sackgasse unseres Fortschritts
Uns ist nichts geblieben als ungenießbarer Brei
Unsere Visagen vollgestopft mit vorgekauten Ideen
Weg von hier
Weg von hier
Weg von hier, verdammt noch mal!
Nichts wird nach uns von dieser Scheiße übrig sein
Und wir alle wussten, dass wir für Scheiße kämpfen
Weg von hier
Weg von hier
Weg von hier, verdammt noch mal!”
(QSS: El innen, 1985)
Unter den Interviewpartner:innen im Buch finden sich Namen, die über die Grenzen der Subkultur hinaus bekannt sind, wie Ágnes Bárdos Deák von der Gruppe Kontroll Csoport, Imre Para-Kovács, der neben seiner journalistischen und literarischen Karriere in der Band Csináltad már rabbival? (übersetzt: Hast du es jemals mit einem Rabbi getrieben?) spielt, Zoltán Vörös, der einst bei BTK spielte und später den Budapester Laden für harte Musik Headbanger gründete. Und nicht zuletzt drMáriás, ein weltberühmter Maler, Romancier und Kopf der Band Scientists. Neben den Musiker:innen gibt es auch Leute wie Gyula Nagy Junior, dessen Vater das Black Hole gründete, den innerhalb der Subkultur wichtigsten Club und eine der Hochburgen der Bewegung, sowie Attila Izsák, ein bedingungsloser Fan der Ära und einer ihrer kompromisslosesten Dokumentaristen. Die gegenseitige Feindschaft zwischen CPg und dem ehemaligen Pop-Riesen Péter Erdős, die “Ansprache unter dem Vorwand der Schmutzwelle“ und die Punk-Prozesse werden ebenfalls untersucht. Man erfährt, wer Lucile Chaufeur, besser bekannt als Lucy, war und wie der einzigartige Dokumentarfilm East Punk Memories über den Alltag der Punks hinter dem Eisernen Vorhang entstand. Und natürlich kommen auch die Redakteure selbst zu Wort. Zwischen ein bis zwei Seiten Blitzinterviews, bis zu fünfzehn Seiten ausführlicher Gespräche, diversen Textfetzen und Auszügen aus zeitgenössischen Artikeln sind die Seiten mit einer überwältigenden Menge an Fotos, Flyern und Plakaten aus dieser Zeit gefüllt, die dem Publikum weitgehend unbekannt sind.
Ein weiterer wichtiger Vorzug des Buches ist, dass es nicht einen Augenblick lang versucht, eine klare Definition von Punk aufzudrängen, sondern die Tausenden von Erinnerungen der vielen Subjekte auf unzählige Arten präsentiert, es gibt keinen narrativen roten Faden. “Nem az a punk, aki…” (übersetzt: Punk ist nicht, wer…) ist ein erstaunliches Buch, nicht nur, weil es geschafft hat, die Bands zu verewigen, die mangels greifbarer Beweise nur in der Erinnerung einiger weniger Menschen existierten, sondern auch, weil es ein wirklich umfassendes Bild vom Leben der Subkultur und der Kádár-Ära selbst vermittelt.
Hauptsächlich werden aber natürlich die Bands porträtiert. Angefangen bei den relativ bekannten Gruppen, die viele Wandlungen durchgemacht haben, aber zum Teil heute noch existieren, wie die bereits erwähnten Scientists und CPg, die Vágtázó Halottkémek (Galoppierende Spione der Toten) oder Európa Kiadó (Europa Verlag), bis hin zu den Formationen, die nur denjenigen bekannt sind, die sich tiefergehend mit der Materie beschäftigen, wie Lavina, ETA oder Modells, bis hin zu den beinahe legendären Bands wie Temetkezési Vállalat (Bestattungsunternehmen), Ideges Dögevők (Nervösen Biestfresser), Inkubátor, und, unter diesen klangvollen, perfekten Bandnamen mein persönlicher Favorit, A Gyáregységparancsnok Reggelije (Frühstück des Fabrikeinheitsaufsehers). Insgesamt werden in dem Buch rund hundert Bands erwähnt, darunter auch Vertreter:innen von jenseits der Landesgrenzen, wie Prljavo Kazalište oder Total Chaos aus Tschechien.
Trotzdem ist das Buch nicht einfach eine Bestandsaufnahme dieser Musiken und ihrer Tatverdächtigen. Da die Herausgeber:innen des Buches natürlich allesamt fanatische Fans und in mehr als einem Fall auch Mitgestaltende der behandelten Subkultur sind, werden mit den Interviewpartner:innen nicht einfach die gleichen Fragen einer Liste abgearbeitet, sondern im Gegenteil – jede:r antwortet auf die persönlichsten, direkt gestellten Fragen, weshalb dieses Buch ein Konglomerat von Millionen Erinnerungen ist, die über die Geschichte des heimischen Punks hinaus mosaikartig nebeneinander existieren und sich teilweise widersprechen. Die pessimistischsten unter ihnen sehen keinen Grund, das rebellische Selbst am Leben zu erhalten, nachdem der letzte sowjetische Baka von dannen gezogen ist, während die Einstellung für andere ein ganzes Leben lang gilt. Einige Akteur:innen sind sich ihrer eigenen zusätzlichen Bedeutung nicht vollständig bewusst, andere versuchen im Gegenteil, den vielleicht etwas überfüllten Rahmen der sie umgebenden Legenden weiter auszufüllen. Und es gibt auch solche, bei denen Frage und Antwort in der Erinnerung weit auseinanderliegen. Es ist eine vielfältige Anekdotensammlung, die, abgesehen von einer einfachen Chronologie, ohne große stilistische Zwänge von der Epoche und der sie umgebenden Atmosphäre, von Wut, Enttäuschung und bitterer Hoffnung bis zum Ende der siebziger Jahre erzählt. Attila Márton, alias Tizi, Leader der Tizedes és a többiek (Unteroffizier und die anderen) und Bandanas sagt: “Ich hatte zur Zeit des Regimewechsels die Hoffnung, dass es besser werden würde, aber es wurde verdammt nochmal nicht besser“. Er ist einer der wenigen, die den echten ungarischen Punk noch am Leben erhalten, und hat dieses Jahr ein gemeinsames Album mit Barango von QSS namens Nemzethy Delírium veröffentlicht. Zeitgenössische ungarische Punkbands wie Norms und Juggler zehren noch immer von der Musik dieser Ära.
Trottel Records hat in den letzten Jahren mit der Compilationreihe “Pajtás, Daloljunk” (Kumpel, lass uns singen) die Musik dieser Ära archiviert, ganz zu schweigen von der zwei Alben umfassenden Compilation “Riot! Women from The Hungarian Wasteland” ungarischer Punk Akteurinnen, die neuen Künstlerinnen wie Plüssnapalm (Plüsch Napalm), Piresian Beach und Palánta (Setzling) ihren gebührenden Platz einräumt.
Trotzdem besteht kein Zweifel, dass diese Veröffentlichung Trottel Records’ eigenes, bereits beachtliches Oeuvre krönt. Es ist eine ehrgeizige redaktionelle Herausforderung und ein komplexes Unterfangen, sowohl für diejenigen, die das Buch zusammengestellt haben, als auch für diejenigen, die es lesen, aber es ist sehr empfehlenswert. Denn, um auf die brennende Frage zurückzukommen, die am Anfang dieses Artikels gestellt wurde: Was bedeutet es, ein Punk zu sein?
Punk ist gleichzeitig eine Art Rudelzugehörigkeit und Individualität, Selbstdarstellung, Stil; raue, laute und primitive, Musik, die die Irokesen aufstellt; Rebellion ohne Ende; aber auch ein kulturelles Bindeglied zwischen der arbeitenden und der intellektuellen Klasse (oder eher: das es hätte es sein können). Hedonismus, Nihilismus, Freiheit, Solidarität. Um die bereits erwähnte Ágnes Bárdos Deák für ein prägnantes Schlusswort heranzuziehen, ist es wohl punk einfach frech zu fragen: “Wer sagt denn, dass du schlecht bist?“

This article is brought to you by MMN Mag as part of the EM GUIDE project – an initiative dedicated to empowering independent music magazines and strengthening the underground music scene in Europe. Read more about the project at emgui.de.
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