Text: Dávid Gerlei
Übersetzung: Natalie Szende
Originalveröffentlichung auf mmn-mag.hu
Anders als in zahlreichen Ländern Mittel- und Osteuropas (siehe beispielsweise die Clubs in Brünn und Ostrava in der Tschechischen Republik) ist die zeitgenössische elektronische Musikszene in Ungarn eindeutig auf die Hauptstadt konzentriert. Das Gleiche gilt grundsätzlich für beinahe alle experimentellen Initiativen – auch wenn man in Tatabánya oder Székesfehérvár, wenn man an einem Freitagabend Lust auf eine Party hat, vielleicht irgendetwas findet, konvergiert die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dieser Veranstaltung, auf die man sich am Ende verirrt hat, um eine für neue Musik handelt, praktisch gegen null.
Gerade deshalb ist es erfrischend zu sehen, dass Pécs (selbstverständlich nicht nur in diesem Bereich) so etwas wie eine Ausnahme zu der Ungleichheit zwischen Budapest und dem ungarischen Umland darstellt, da sich in ihr, einer der ältesten römischen Städte in Ungarn, eine lokale experimentelle elektronische Musikszene gebildet hat. Schlüsselfigur dieser Szene ist der Studiengang “Elektronische Musik & Medienkunst” an der Universität Pécs (PTE), in dem ich selber im dritten Jahr studiere und der stetig wachsenden Gemeinschaft um ihn herum. Das an der Kunstfakultät angesiedelte, informell als EZMBA bezeichnete Institut ist im berühmten Zsolnay-Viertel ansässig, seine Geschichte reicht bis ins Jahr 2008 zurück, als der Institutsleiter Balázs Kovács (xrc, Eszelős meszelős) zusammen mit Größen wie László Vidovszky, Andrea Szigetvári und Bálint Bolcsó den Grundstein für ihre Einführung legte. Balázs erinnert sich daran, dass die Universität bereits mehrere ähnliche erfolglose Versuche hinter sich hat, und obwohl seit 1996 eine Informatik-Musikausbildung angeboten wurde, hatte sie sich aus irgendeinem Grund nie etabliert. Schließlich fand man eine Lösung im Experimentieren mit Medienkunst und anderen elektronischen Kunstformen. “Ich habe festgestellt, dass zum Beispiel in der Tschechischen Republik die Subkultur der elektronischen Musik überleben und sich entwickeln konnte, weil sie in anderen Kunst- und Forschungsbereichen Wurzeln geschlagen hat”, erzählt Balázs.

Laut der offiziellen Website der Universität richtet sich der Kurs „an diejenigen, die sich für Klang, Geräusch, Stille und all ihre elektronischen oder digitalen Formen interessieren. Alle, für die Klang, Bild und all diese Medien keine vorgefertigten, geschlossenen Konstruktionen sind, sondern ein Experiment, eine Improvisation, eine Möglichkeit. Mit anderen Worten an alle, die sich für Klangkunst, Interaktion, Netzwerkprojekte und Performance interessieren.“
In Ungarn kann man elektronische Musik abgesehen von der PTE ausschließlich an der Franz Liszt Musikakademie (LFZE) in Budapest studieren, allerdings erfordert dieser am Institut für Komposition angesiedelte Studiengang im Gegensatz zu Pécs wesentlich fundiertere theoretische und musikalische Vorkenntnisse. Dementsprechend wird die Aufnahmeprüfung an der Liszt-Musikakademie in der Regel von Studierenden absolviert, die über einen Hintergrund in Musiktheorie und Instrumentalmusik verfügen, sowie stärker an informatischen Seiten der elektronischen Musik interessiert sind, während der Studiengang in Pécs eher für Leute gedacht ist, die ihre autodidaktischen Fähigkeiten in einem professionell strukturierten System fördern lassen wollen. Jemand, der einen Studienplatz an der EZMBA erhält, hat vielleicht noch nie Musik in irgendeiner institutionalisierten Form studiert, weshalb das Studium eher einer Werkstatt ähnelt als einer klassischen akademischen Ausbildung.
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit werden Grundlagen der Akustik und Musiktheorie, sowie eine Allgemeinbildung in Werken der Kunst und Musik, außerdem Kenntnisse in Max/MSP, Supercollider, Ableton Live, die Grundlagen der Klangsynthese in einer VCV-Rack-Umgebung, Game Sound Design, Mixing, Mastering und Gruppenimprovisation vermittelt. Man lernt, Hardware-Synthesizer zu bauen und musikalische Fachliteratur zu übersetzen. So wie es bei den Lehrkräften einige Überschneidungen zwischen den Fakultäten in Budapest und Pécs gibt, findet auch zwischen den Studierenden eine regelmäßige Kollaboration statt: In der vierteljährlich erscheinenden Reihe Kipakolás (Rundgang) im Budapester Lumen treten Duos aus LFZE- und PTE-Studierenden auf. Neben Balázs Kovács und Bálint Bolcsó unterrichten in Pécs renommierte, aktive Künstler:innen und Fachleute wie Zlatko Baracskai, Ergimen Djindji, Gida Labus, Nikolett Kardos, Mári Mákó, Péter Márton (Prell/Teleϟport) und András Simongáti. In den vergangenen Jahren sind mehrere national und international erfolgreiche Alumni aus der EZMBA hervorgegangen, darunter Alexandra Abigél Bánházi (swanasa), die im April vor Abul Mogard in Trafó aufgetreten ist; Gábor Lázár, der nach zwei Planet Mu-Alben kürzlich sein neues Album auf Raster-Media veröffentlicht hat; die gesamte Műhely-Crew, die sich ebenfalls in Pécs formierte. Auch Roland Nagy (Fausto Mercier), der 2020 SHAPE-Artist war, begann hier seine Karriere. Seitdem hat er Alben auf Kaer’Uiks, Pointless Geometry und dem inzwischen aufgelösten Genot Centre (hier nachzulesen) veröffentlicht. 2024 ist er neben Konzerten in Ungarn auch in Rom, Parma, Berlin und Dortmund aufgetreten.
Diese Artists leben, von ein oder zwei Ausnahmen abgesehen, nicht mehr in Pécs, sondern in der Regel in Budapest und/oder im Ausland. Aber nicht nur, dass sie wegziehen: Künstler:innen der PTE treten nur noch selten in der Stadt auf, weshalb sich der Verdacht erhärtet, dass die Fakultät eher als Sprungbrett fungiert, denn als eine Entität, die die Versorgung der Stadt mit elektronischer Musik langfristig sicherstellt. Diese Ansicht teilt auch Roland, der eine Ausnahme darstellt: Er zog 2013 in die Stadt, als er an der EZMBA angenommen wurde, lebt seitdem dort und unterrichtet auch seit Jahren. Er sagt, dass die Ausbildung und die Gemeinschaft eine große Rolle beim Start seiner Karriere gespielt haben, und er bis heute auf Ansätze zurückgreift, die er in diesem Umfeld entwickelt hat: “Alles kann passieren, und diese Wahrheit habe ich hier verinnerlicht.“ Trotzdem ist er, mal abgesehen von der Zeit seines Studiums, in der Pécser Szene keine feste Größe geworden. Das letzte Mal spielte er vor sechs Monaten bei einem zaj+-Showcase (Noise+) in der Nádor-Galerie im Rahmen des ersten BPM-Festivals (Binary Pécs Movement). Dabei handelte es sich um ein zweitägiges Mini-Festival mit sechs Veranstaltungsorten, das durch den Zusammenhalt der Szene ermöglicht wurde. Wenn man sich diese Spielorte genauer ansieht, die bei der Planung und Umsetzung die Initiative ergriffen haben, bekommt man ein relativ klares Bild davon, wo in Pécs die Möglichkeit besteht, zumindest gelegentlich dem Mainstream zu entkommen.
Der Amper Klub ist derzeit der einzige Ort der Stadt, an dem ausschließlich elektronische Musik (in der Regel Techno) gespielt wird: Die bereits erwähnte Műhely-Crew (“Werkstatt-Crew”) und das selbsternannte Underground-Technokollektiv Klang, das ebenfalls mit dem Institut verbunden ist, haben hier während des BPMs Partys veranstaltet.
Tamás Hámori spielte eine entscheidende Rolle bei der Koordination des Projektes, indem er als Vermittler zwischen der Club- und der institutsnahen experimentellen Musikszene agierte – als Produzent von Drum and Bass (brane.), als DJ für experimentelle Musik (haiori), der zwischen 2020 und 2023 so regelmäßig wie in Pécs eben möglich Bass-Events in der Stadt organisierte.
Neben Roland und Balázs ist auch er der Meinung, dass die relevantesten Orte für die Gemeinschaft, die sich um den Studiengang herum gebildet haben, das Szabadkikőtő und die Nádor-Galerie (wo unter anderem das bereits erwähnte noise+-Showcase stattfand) sind. Der zuletzt genannte Ausstellungsraum wird gemeinsam von der Medizinischen und der Kunst-Fakultät betrieben. Ihr Ziel ist es laut Postulat auf ihrer Website, “einen Gemeinschaftsraum zu schaffen, der es ermöglicht (…), die Werke der Studierenden zu präsentieren (…) und der Bevölkerung der Stadt die Möglichkeit zu bieten, die beiden Institutionen durch die hier organisierten Programme besser kennenzulernen.“ Da es sich hierbei in der Regel um Projekte der bildenden Kunst handelt, ist es für das EZMBA hauptsächlich eine Gelegenheit, Multimedia-Installationen umzusetzen (ein gutes Beispiel dafür ist das BPM, bei der während der noise+-Veranstaltung die Arbeiten von Rolands Klasse den Raum bespielten). Solokonzerte mit experimenteller Musik sind hier eher selten.
Damit ist Szabadkikötő als einer der Hauptveranstaltungsorte von 143° und Spielort des Prüfungsfestivals essentiell für die Gemeinschaft um den Studiengang. Die 143°-Reihe ist die wichtigste Initiative des EZMBA und wurde ursprünglich im Innenhof der Universität ins Leben gerufen, um den Studierenden die Möglichkeit zu geben, sich untereinander ihre Musikprojekten zu zeigen. Dabei handelte es sich von Anfang an um eine sich selbst organisierende Gruppe.
Es ist ein außergewöhnliches und schwer zu erklärendes Phänomen, dass eine der größten experimentellen Musikszenen des Landes, die zudem an eine Institution gebunden ist, nicht wirklich über Spielorte verfügt, an denen sich die Mitglieder regelmäßig vor einem größeren Publikum präsentieren können.
Balázs weist auch darauf hin, dass es momentan in der Stadt einfach nicht genügend relevante Räume gibt. „Früher haben wir an vielen Orten in Pécs experimentelle Musikprogramme organisiert, nicht nur in Kunsträumen, sondern auch in Kneipen und auf öffentlichen Plätzen. Die Plätze und Straßen des Stadtzentrums eignen sich besser als in anderen Städten für solche Events. Aus vielen verschiedenen Gründen sind diese Orte in letzter Zeit etwas zurückgedrängt worden, sodass nur der Szabadkikötő und vielleicht die Nádor-Galerie als tolle Orte für solche Veranstaltungen übrig geblieben sind.“
Über die Gründe hat das Nachrichtenmagazin Pécs Aktuál im Jahr 2020 in einem Artikel mit dem Titel “So ist in Pécs die elektronische Musik in zehn Jahren verstorben” berichtet, in dem detailliert die Kultlokale aufgelistet wurden, die seit der “goldenen Ära“ der 1990er und 2000er Jahre dichtgemacht haben. Dass es in den letzten zwei Jahren drei 143°-Partys im Budapester Club Gólya gab, ist zwar noch lange kein Ersatz für lokale Initiativen, dennoch war es eine aufregende Gelegenheit für alle Künstler:innen vom Studiengang, vor einem größeren, unbekannten und diversen Publikum aufzutreten. Diese neue Situation schien jedoch auch eine unausgesprochene Erwartungshaltung in sich zu bergen: Auf den beiden Partys, die ich besucht habe, wurde das Experimentieren in den Hintergrund gedrängt, und stattdessen schien die Tanzbarkeit die größere Priorität zu sein. Natürlich geschah dies im Spirit von 143° ausschließlich durch Live-Sets, trotzdem war spürbar, dass es sich nicht um ein völlig authentisches Line-up handelte, vor allem, als ein oder zwei der lauteren Zuhörer aus dem Publikum dem Typen, der lieber experimentellen Ambient als Techno oder D’n’B spielen wollte, den Ratschlag zubrüllten: „Bisschen schneller, Alter.”
Wichtig zu erwähnen ist auch das Zsolnay-Lichterfestival, wo das Institut seit Jahren über einen eigenen Spielort verfügt. Hier passiert am ehesten das, was Balázs erwähnt hat, nämlich dass Leute, die sonst auf einer ganz anderen Schiene unterwegs sind, mit Genres in Kontakt kommen, die ihnen sonst nicht unbedingt viel sagen. Tamás weist darauf hin, dass jedes Jahr im Juli Tausende von Besucher:innen kommen, um die Verschmelzung von experimenteller Musik und visueller Kunst zu erleben, aber, wie Balázs anmerkt, handelt es sich dabei eher um eine Touristenattraktion als um ein herkömmliches Festival.
Ein- bis zweimal im Jahr kommt es außerdem vor, dass eine relevante elektronische Musikproduktion aus einer anderen Stadt – in der Regel aus Budapest – Balázs für lokale Support-Acts aus dem Studiengang anfragt. So trat Peter Adam vor iamyank auf, aber ich hatte auch schon das Vergnügen, vor Sándor Vály und Attila Kalóczkai, der inzwischen leider verstorben ist, auf einem von blindblindblind organisierten Event zu spielen.
Diese beiden Konzerte veranschaulichen perfekt die Aussichten von Acts, die als Nischen-Künstler:innen in Pécs auftreten. Sowohl zum Vály-Kalóczkai-Abend als auch zum iamyank-Konzert erschienen etwa zwanzig Personen. Es scheint sich um eine allgemeine Tendenz zu handeln, dass wenn Produktionen elektronischer Musik außerhalb des Mainstream oder der Tanzmusik in der Stadt stattfinden, sich nicht viele Leute dafür interessieren – und diejenigen, die es tun, fast sicher in irgendeiner Weise in den Studiengang involviert sind. Dieses Phänomen wirkt sich sowohl auf die Einstellung der Organisierenden als auch auf die Bereitschaft der Acts aus. Wie Roland bemerkt: “Als Act geht man dorthin, wo man geschätzt wird, wo es einen Bedarf gibt für das, was man tut. In Pécs scheint es, als gäbe es nicht so viele aufgeschlossene Ohren für Konzerte mit neuer Musik.” Aber welche Art von Musik will die Stadt sonst hören? Tamás meint: „Für Techno und Drum ‘n’ Bass gibt es lebendige Communities in der Stadt. Und natürlich gehen die meisten jungen Leute zu irgendeiner Art von Latin/R&B- oder Mainstream-Party im Pécsi Est oder Sörház.“
Aufgrund der genannten Faktoren hat Pécs eine ganz besondere, unbestreitbare Rolle in der ungarischen experimentellen Musik. Die lokalen Trends im Vergleich zu Budapest sieht Balázs folgendermaßen:
“Wenn man in Budapest ein kleines, aber interessantes Programm organisiert, ist es nicht wirklich sichtbar, aber wenn man das Gleiche in Pécs macht, dann ist das Gegenteil der Fall. In Pécs gibt es in diesem Bereich keine Veranstaltungen mit großem Budget, also ist es ein bisschen, als würde die Rave-Kultur der ‘90er Jahre mit verschiedenen Musikstilen und immer anderen jungen Leuten weiterleben.“
Ähnlich sind auch die Erfahrungen von Roland, der der Meinung ist, “dass es in Pest eindeutig mehr Initiativen für Noise-Musik gibt: Labels, Events, Kollektive, die die Szene nicht nur am Leben erhalten, sondern auch mitgestalten. Außerdem kommt eher eine Gemeinschaft als ein Publikum, was ich total sympathisch finde. So etwas gibt es außerhalb der Fakultät in Pécs nicht.„
Das einzige experimentelle, auch landesweit renommierte Label in Pécs ist auch Balázs zu verdanken, der 2001 das zunächst unter dem Namen diaspóra bekannte, heute zu dióbél umgetaufte DIY-Label ins Leben rief. “Im Grunde ging es darum, die eigene Musik und die des engeren Bekanntenkreises in einer Auflage von 10 bis 20 Exemplaren in einem handgefertigten physischen Format zu veröffentlichen (damals vor allem CDs, dann Pendrive, Floppy, später Vinyl).”
Die Tätigkeit mit dióbél ist eng mit dem Studiengang verbunden: Die Maschine, mit der die Platten geschnitten wurden, befindet sich in einem der Unterrichtsräume und kann von den Studierenden im Rahmen des Kurses “Schallplattenherstellung“ ebenfalls benutzt werden. Darüber hinaus kam 2020 das Kompilationsalbum EZMBA 10 v/a heraus, und wenn die Gerüchte stimmen, ist das nächste für das folgende Jahr in Aussicht. Balázs plant, dass sich das Label in Zukunft nur noch auf Debütalben spezialisierenwird. Wenn dieser Plan verwirklicht wird, könnte das eine ernsthafte Chance für mehrere elektronische Künstler:innen aus Pécs bedeuten, um durchzustarten. Andererseits ist es fraglich, wie gut sie sich anschließend unter den aktuellen Bedingungen in der lokalen Szene etablieren können.
Trotz alledem hat die Pécser Szene ihre eigene Identität. Ihre Rolle in der ungarischen experimentellen Musik ist unbestreitbar, schon allein deshalb, weil sie neben Budapest die einzige ungarische Stadt ist, in der solche Bemühungen stattfinden. Um die beschriebenen suboptimalen Bedingungen zu verbessern, müssten sich zahlreiche Faktoren glücklich fügen. Trotzdem ist ein ermutigendes Zeichen, dass meiner Erfahrung nach (die auch von Roland bestätigt wird) immer mehr junge Leute der Budapest-Zentriertheit der ungarischen Szene überdrüssig werden und für eine 143°-Party oder eines unserer Semesterabschlusskonzerte nach Pécs reisen.

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