NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

gespräch mit eva-maria houben: Über die musikalische praxis

Mai 2024

Eva-Maria Houben ist Komponistin, Pianistin und Teil des Kollektivs Wandelweiser. Im Gespräch mit dem Komponisten Levin Eric Zimmermann beschreibt sie die Potenziale menschlicher Begegnungen, die sich durch musikalische Kompositionen entfalten können.¹
Eva-Maria Houben spielt Orgel in der St-Guinal Kirche (Ergué-Gabéric). Mit freundlicher Genehmigung von Eva-Maria Houben

¹ Wandelweiser ist ein seit den 1990ern bestehendes internationales, informelles Netzwerk von Komponist:innen, Performer:innen und Künstler:innen. Neben dem Verlag Edition Wandelweiser mit Sitz in Haan, NRW gibt es auch das Label Wandelweiser Records mit über 50 CD-Veröffentlichungen. Deren weitere Mitwirkende in NRW sind etwa z.B. Antoine Beuger, Marcus Kaiser, Sandra Schimag und André O. Möller. Jährlich findet die Veranstaltung »Klangraum« in Düsseldorf statt, organisiert von A. Beuger.

evamariahouben.de
wandelweiser.de

Levin Eric Zimmermann
Liebe Eva-Maria, was kennzeichnet die Kompositionen Wandelweisers?

Eva-Maria Houben
Eine Definition von »Wandelweiser« kann es kaum geben. Die einzelnen Kompositionen sind sehr unterschiedlich. Meine persönliche Einschätzung ist: Die Flüchtigkeit der Klänge wird hineingezogen ins Musizieren. Wir wissen, dass Musik flüchtig ist, vergeht, nicht fassbar ist und gespielt werden muss. Dieser Aspekt des Praktischen, diese Bejahung der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Klänge ist charakteristisch für meine Musik. Gemeinsam ist vielen Kompositionen Wandelweisers vielleicht das immer neu ausgelotete Verhältnis von Klang und Stille. Den Facettenreichtum einer Partitur als Skript, einen Reichtum, der gerade auch vor dem Hintergrund der Singularität einer einzigen Interpretation zustande kommt, kennt auch eine Mozart-Sonate: Wenn ich unterschiedliche Aufführungen höre, klingt sie immer anders. Vielleicht kehren einige Kompositionen bei Wandelweiser dieses Spezifikum von Musik besonders deutlich hervor. Diese Eigenart von Musik, die Variabilität der praktischen Auseinandersetzung mit ihr, wird nicht neu erfunden, sondern tritt als innerer Kern von Musik nach außen.

LZ
Etwas wird sichtbar gemacht, was bereits da ist.

EH
Jede Entscheidung in der Praxis könnte auch anders ausfallen. Das ist sehr befreiend.

Wir finden auch nicht ein Blatt, das genauso ist wie ein anderes Blatt. Wenn sich ein Ausführender sehr stark mit einem Stück beschäftigt, dann mag er zu etwas kommen, woran ich als Komponistin vielleicht gar nicht gedacht habe. Ich finde das wunderbar. Ich würde deswegen auch nicht sagen, ein Musiker spiele das Stück nicht authentisch. Für mich ist das eigentlich gar keine Frage, weil man als Spieler immer einen eigenen Weg in das Stück findet. Mit aller Liebe und aller Devotion für das Werk, für den Menschen, der es uns gegeben hat. Deswegen entfallen auch die Kriterien von falsch und richtig.

LZ
Ich kenne Spieler:innen, die zeitgenössische Musik studieren, die sich fragen: Was hat die oder der Komponist:in gemeint, wie kann ich es schaffen, diese Absicht möglichst gut wiederzugeben?

EH
Am Klavier spiele ich sehr gerne Schumann. Aber ich frage nicht: Hat Schumann sich das so gedacht? Sondern ich denke: Welche Praxis des Spielens kann ich herauslesen? Wie möchte ich es spielen? Mein kürzlich verstorbener Freund István Zelenka hat einmal etwas ganz Wichtiges zu mir gesagt: Nicht die »Produktion von etwas«, sondern die »Beschäftigung mit etwas« sei beim Komponieren oder Einstudieren entscheidend. Wir beschäftigen uns mit der Musik, mit unseren Klängen, und sind Sehnsüchtige. Ein Produkt hinterlässt hinterher immer Leere: Etwas ist fertig, damit abgeschlossen. Wir hätten dann ein Stück »fertig«-gestellt, eine bestimmte Interpretation festgelegt. Etwas ist vorbei, man ist traurig. Die Beschäftigung hingegen geht immer weiter; und deswegen wiederholen wir auch die Praxis der Beschäftigung – und komponieren vielleicht das nächste Stück oder finden einen anderen Zugang beim Spielen. Ich glaube, die Haltung zum unausgesetzten Tun verbindet Leute. Ich habe nicht zu gehorchen beim Musizieren. Meine Hingabe an diese Bachfuge, die meine Liebe hat, ist dann die Beschäftigung. Da bin ich schon drin in der Musik. Nicht beim Zeigen meines Ergebnisses von wochenlangen Studien. Ich zeige kein Ergebnis, sondern einen Prozess. Mit dieser Haltung verändert sich auch die Einstellung zum Publikum. Aus dem Publikum wird eine Teilnehmerschaft. Sie sind alle mit dabei. Wir feiern »jetzt« beim Musizieren dieses wunderbare Miteinander-Tun. Das ist die Praxis.

Harmonium. Mit freundlicher Genehmigung von Eva-Maria Houben

LZ
Zur musikalischen Praxis schreibst du in deinem Buch »Musikalische Praxis als Lebensform« nicht nur vom Miteinander-Tun, sondern auch von der Praxis als Überlebensform. Wie ist das gemeint?

EH
Wir machen Musik, weil wir in einer Welt überleben wollen, wie sie die Unsere ist. So sind wohl auch Arbeiterlieder entstanden. Lieder, die bei der Arbeit gesungen wurden, zum Beispiel, oder Lieder, die unter schlimmsten Verhältnissen fortbestehen konnten. Ich singe, wie ein Kind singt, das in den Keller geht und singt, um die Angst zu bewältigen. Wir können unsere Klage und unsere Hoffnung auf Veränderung in Musik zum Ausdruck bringen. Das haben Menschen immer schon getan. Das Tun selbst befreit und hilft uns, unsere Ängste zu teilen und zu einem »Wir« zu finden. Wir sitzen alle im selben Boot. Das zum Ausdruck zu bringen, das war in der Vergangenheit eine große Triebfeder von Musik und ist es jetzt auch noch für uns. Wichtig ist die Frage: Warum Musik überhaupt?

LZ
Weil es die grundsätzliche Frage ist, warum man überhaupt beginnen sollte, zu musizieren.

EH
Genau, man könnte ja auch fragen: Welches Ziel hat das Musizieren? Die armen kleinen Klänge – was können sie ändern, was bewirken? Sie beenden keinen Krieg, sie bekämpfen keinen Hunger. Sie sind so zerbrechlich und so verletzlich, wie wir es sind. Wir geben sie in die Welt als Zeichen unserer Hoffnung. Wichtig ist dabei auch der Zwischenbereich zwischen Tun und Geschehen-Lassen. Man kann nicht alles festlegen. Bei einer Orgel kann ich nicht jeden Luftstrom ganz genau vorherbestimmen und unter Kontrolle haben. Gleichzeitig ist eben auch einiges intendiert und wir machen etwas Bestimmtes, Konkretes. Aber wir befinden uns oft in einem Zwischenfeld – zwischen mehr oder weniger genauer Bestimmung und dem mehr oder weniger großen Verlust der Kontrolle. Hierin liegt für mich eine starke Beziehung zum Alltagsleben, wo wir auch ausgesetzt sind und Kontrolle verlieren, aber dennoch etwas tun wollen und müssen. Musik hilft uns, mit diesem Zwischenbereich umzugehen.

Mit freundlicher Genehmigung von Eva-Maria Houben

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Eva-Maria Houben ist eine deutsche Komponistin, Musikwissenschaftlerin, Organistin, Pianistin und emeritierte Professorin der TU Dortmund. Sie ist aktive Mitwirkende in der Künstler:innengruppe Wandelweiser. Ihre Kompositionen sind verlegt bei der Edition Wandelweiser in Haan. Ihr letztes Buch »Musikalische Praxis als Lebensform« wurde 2018 veröffentlicht. Aufnahmen ihrer Arbeiten erschienen u.a. bei Another Timbre, Edition Wandelweiser oder Makro Musikverlag.