NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

gedanken über glasbach

Aus Noies 03/22 Juli 2022

Seine Quelle liegt nur 300 Meter von meinemHaus entfernt und, nach etwa 1200 Metern nach Westen durch das Arboretum Burgholz fließend, mündet er in die Wupper: Ein ganzes Jahr lang war der Glasbach für mich mehr als nur ein rauschender Nachbar.
Aus Noies 03/22

 

danielverasson.de

Glasbach 

Im April 2020 fasste ich den Entschluss, ein auf längere Dauer angelegtes Projekt zu beginnen. Einmal wöchentlich, jeden Sonntag, ganze 53 Mal ging ich mit meinem kleinen portablen Aufnahmegerät  in den Wald, gerne auch mit meiner Kamera über der Schulter. An zwei ausgewählten Orten machte ich jeweils eine Aufnahme, aus der ich nachträglich einen Ausschnitt von 30 Sekunden Dauer wählte. Die Regel, die ich mir dafür gab, lautete: neben dem natürlichen Waldgeschehen solle nichts zu hören sein. Gelegentlich zogen daher Flugzeuge oder entferntes Hundegebell meine Aufnahmesession in die Länge. 

Ausgangspunkt dieser Projektidee war, dass ich die Wassermenge des Glasbachs über das Jahr hinweg hörend dokumentieren wollte. Am oberen Aufnahmepunkt etwa 120 m unterhalb der Quelle lief an keinem der 53 Sonntage auch nur ein einziger Tropfen Wasser. Es scheint erschreckend offensichtlich zu sein, wie das immer trockener werdende Klima auch die Quelle dieses kleinen Baches de facto mehrere hundert Meter bachabwärts verschiebt. 

Neben der Begleitung des sich verändernden Rauschens bot sich mir in der Zufälligkeit des Aufnahmemoments die hörbare Avifauna in stets unterschiedlicher Zusammensetzung, wie dieser Ausschnitt aus dem damals noch jungen Jahr 2021 dokumentiert: 

07.02.2021: Waldkauz (Strix aluco) 

14.02.2021: – 

21.02.2021: – 

28.02.2021: Ringeltaube (Columba palumbus) / Rotkehlchen (Erithacus rubecula) / Buntspecht (Dendrocopos major) 

07.03.2021: Eichelhäher (Garrulus glandarius) / Zaunkönig (Troglodytes troglodytes) / Amsel (Turdus merula) / Ringeltaube (Columba palumbus) / Buntspecht (Dendrocopos major) 

Musik 

In meiner künstlerischen Arbeit richte ich meinen Fokus auf die Natur, insbesondere auf das Erscheinen natürlicher Phänomene, Intentionslosigkeit und Zufälligkeit. 

Als Oberbegriff für meine kompositorische Vorgehensweise entwarf ich den Begriff der kontemplativ ästhetischen Dokumentation. Kontemplation steht für das, was Martin Seel mit »interesseloser Aufmerksamkeit«1 bezeichnet, wenngleich etwa in meinem Projekt »Glasbach« durchaus ein reales Interesse an einer hörbaren Veränderung der Wassermenge bestand. Dieses Interesse wird aber durch das immanente Zulassen von Zufälligkeit erweitert. Universale Intentionslosigkeit ist in der künstlerischen Arbeit ohnehin nicht realisierbar, da sie bereits daran scheitert, dass allein der Gedanke an das Schaffen von Kunst die initiale Intention darstellt. Daher öffnet mein kompositorischer Fokus vielmehr einen Möglichkeitsraum, in dem ich mich bewege und der es mir erlaubt, Musik und Komposition anders zu denken. Soundscape als ein Ausdruck innerhalb dieses Möglichkeitsraums kann zwar eine Brücke für das Verständnis meiner Arbeit sein, jedoch wird durch ihn der Bereich instrumentaler Musik ausgeklammert.  Die kontemplativ ästhetische Dokumentation schließt hingegen die Sammlung instrumentaler Phänomene ein, welche etwa die Grundlage meiner instrumentalen Werkreihe »Herbarium« bildet, an der ich seit 2019 arbeite. 

Epilog

Im Sommer 2022, etwas über ein Jahr nach Abschluss des Projektes, ist der Glasbach mit Ausnahme weniger verbliebener Wassermulden auf ganzer Länge trockengefallen. 

1 Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S. 38 

Der Wuppertaler Daniel Verasson ist Komponist und Klangkünstler. In seiner Arbeit setzt er sich mit natürlichen Phänomenen und ihren Beziehungen  zur Kunst auseinander. Schwerpunkte seiner Arbeit sind unter anderem Kunstmusik, (live-elektronische) Performance und Installation.