NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

gedanken über arbeitsunfähigkeit & selbstständigkeit: the system is sick, my friend

Aus Noies 01/25 April 2025

Wer in Deutschland als selbstständige:r Musiker:in arbeitet, sollte besser nicht krank werden, denn bei längerem Krankheits- und somit Honorarausfall kann das schnell existenzbedrohend werden. Lars Fleischmann gibt einen Überblick über Ansprüche von Künstler:innen und Lücken im System.

Von Lars Fleischmann
Erschienen am 15.02.25


Was bedeutet es krank zu sein? Seit jeher scheitert der Fachbereich der Medizin an einer konzisen Definition. Es gab allein über das letzte Jahrhundert einen Wildwuchs an Erklärungsansätzen, von denen nicht wenige den Umweg der definitio-ex-negativo gehen: Krank sein ist in dem Fall »nicht gesund« sein. 

Im aktuell geltenden Urteil des Bundessozialgerichts hingegen heißt es: Krankheit ist »ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat«. In Deutschland ist also krank, wer nicht mehr arbeiten kann entsprechend arbeitsunfähig ist – oder um es einfacher zu sagen: Krank ist, wer einen gelben Schein vorweisen kann.

Laut einer Schätzung des Deutschen Musikrats gibt es 55.000 selbstständige Musiker:innen in Deutschland. Vergleicht man diese mit gerundet 17.500 sozialversicherungspflichtig angestellten Musiker:innen, dann kommt man auf ein Verhältnis von ca. 1:3; eine klare Mehrheit. Doch für diese Mehrheit kann »krank sein« ein ernsthaftes Problem werden.

Ruth (Name auf Wunsch geändert) lebt in Köln, ist als Kommunikationsdesignerin und als Musiker:in selbstständig tätig, solo oder als Bassistin in unterschiedlichen Bandkonstruktionen. Sie sagt: »So lässt sich nur arbeiten, wenn man körperlich fit ist.« Im Dezember 2023 stürzt Ruth und verletzt sich schwer an einer Schulter. Die Schulter muss zwar nicht operiert werden, allerdings kommt es nach wenigen Wochen zu einem »Frozen Shoulder Syndrome« — die Schulter lässt sich nicht mehr vollumfänglich bewegen. Den E-Bass umzuschnallen wurde zur Qual, war zwischenzeitlich sogar unmöglich. Selbst die Arbeit am Schreibtisch als Grafikerin war so nicht zu bewältigen. Mit persistierenden Problemen musste sie Auftritte absagen, die Arbeit zu einem Album ihrer Band stagnierte, als Grafikerin musste sie Kund:innen vertrösten und Aufträge absagen — der Geldbeutel leerte sich.

Sie besuchte Ärzt:innen, diese stellten ihr wiederum mit Verweis auf die Selbstständigkeit zunächst keine Krankschreibung aus. Eine Situation, die Selbstständigen in Deutschland nur allzu gut bekannt sein dürfte. So oft diese Behauptung aber gepflegt wird, so falsch ist sie. Denn Ruth steht wie jedem Mitglied der Künstlersozialkasse in Wilhemshaven (KSK) ein Krankengeld zu. Das bestätigt uns auch das Team des Freien Wildbahn e.V., der Künstler:innen in Fragen zur Künstlersozialkasse berät: »Sofern KSK-Versicherte der Versicherungspflicht in der Kranken/Pflegeversicherung unterliegen, besteht bei der jeweiligen gesetzlichen Krankenversicherung automatisch ein Anspruch auf Krankengeldleistungen ab dem 43. Tag der Arbeitsunfähigkeit.«

Erst nach etlichen Telefonaten und mit zunehmendem finanziellem Druck findet sich die richtige Ansprechperson, die Ruth bestätigt, dass sie Anrecht auf Krankengeld hätte. Hätte, nicht hat, denn: Es fehlen die Krankschreibungen, die ihr bis dahin verwehrt geblieben waren. Heute empfindet sie diese Zeit als doppelte Tortur, in der sie nicht nur körperliche Schmerzen (und Angst um die zukünftige Funktionsfähigkeit des Arms und der Schulter) aushalten musste, sondern sich zunehmend Sorgen um ihre Existenz machen musste. Sie besorgt die Krankschreibungen, was einen erheblichen Mehraufwand für alle Beteiligten bedeutet, und beantragt mit großer Verzögerung das Krankengeld.

Der einzige Haken: »Die Höhe des Krankengeldes richtet sich nach der Meldung des Einkommens über die KSK. Es wird das gemeldete Einkommen der letzten 12 Monate vor Eintritt der AU (Arbeitsunfähigkeit) berücksichtigt. Davon werden 70% geleistet. Da der Beitrag für die Rentenversicherung weiterhin bezahlt werden muss, zieht die Krankenkasse das vom Tagegeld ab«, erklärt die Freie Wildbahn e.V. Ein Beispiel: Ein KSK-Mitglied verdient 20.000 € (nach Betriebsabgaben) im Jahr, ihm steht ein Krankengeld von etwa 1000 € im Monat zu. Das ist gerade in Großstädten oftmals nicht viel mehr als die bloße Miete. Außerdem muss man i.d.R. bereits 42 Tage Einnahmeausfälle durch die Krankheit in Kauf nehmen, gilt doch das Krankengeld erst ab dem 43. Tag.
Die Berater:innen von Freie Wildbahn e.V. machen uns auf eine (Teil-)Lösung des Problems aufmerksam: »KSK-Versicherte können bei fast jeder Krankenkasse einen Wahltarif vereinbaren, der den ersten Leistungstag auf den 15. Tag vorverlegt. Die Kassen haben unterschiedlichste Beiträge dafür.« Informationen hierzu sollte man sich also schnellstmöglich besorgen, wenn man im Krankheitsfall abgesichert sein möchte. Aber: Betriebskrankenkassen oder auch die AOK bieten solche Wahltarife nicht an.

Und: Wie weiter oben gezeigt, sind die ausgezahlten Krankengeldbeträge oftmals gering und teilweise unter dem Existenzminimum angesiedelt, gleichsam ist es verboten, jene Aufträge anzunehmen, die trotz Einschränkung möglich wären. Laut Gesetzgeber ist man eben »arbeitsunfähig«. Für viele selbstständige Musiker:innen bedeutet das folglich den Gang zur Arbeitsagentur und die Beantragung einer Aufstockung auf Niveau des Bürgergeldes.

Kranksein ist immer auch ein Zustand in unserer Gesellschaft, den man sich leisten können muss. Behandlungen sind teuer, Ausfallzeiten kosten Einnahmen und die Sicherungsmaßnahmen wie das Krankengeld der KSK, die der Gesetzgeber bisher vorsieht, sind insuffizient und schnell existenzbedrohend. Mit den bevorstehenden Neuwahlen ist jetzt vielleicht der richtige Zeitpunkt, dass die 50.000 selbstständigen Musiker:innen (und andere KSK-Versicherte) die Parteien unter Druck setzen, denn eine Frage sollte alle gemeinsam bewegen: Warum gibt es keine Möglichkeit auf Lohnfortzahlung ab dem 1. Tag der Arbeitsunfähigkeit, wo diese doch für Angestellte normal ist? Die NRW-Landesregierung hat indes einen Antrag im Deutschen Bundesrat eingebracht, der eine Absicherung von Künstler:innen im Falle von »Lücken in der Erwerbsbiographie« vorsieht. Sonderlich große Hoffnung sollte man nicht schöpfen, denn die »neue Säule in der Künstlersozialkasse« kommt einer Anpassung an das Arbeitslosengeld gleich. Ob sich damit auch eine Lohnfortzahlung für längerfristig arbeitsunfähige Künstler:innen darstellen ließe, bleibt zu bezweifeln.

Man sieht: Es liegt noch viel politische Arbeit vor uns, damit Künstler:innen eine generelle soziale und monetäre Absicherung im und außerhalb des Krankheitsfalls erhalten können in Deutschland.

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Lars Fleischmann ist Autor und Journalist, er schreibt regelmäßig für die taz, konkret, kaput-mag und andere Magazine über Kunst, Pop und Jazz. Fleischmann ist darüber hinaus Redakteur für Bildende Künste des Kölner Lokalmagazins Stadtrevue.