NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

gedanken über expanded music: expanding – what?

Aus Noies 03/25 Juli 2025

Eine Vorliebe zur Kategorisierung von Musik, welche man in mit Genrenamen beschriftete Schubladen steckt, spüre ich schon seit langem. Sind Genrebezeichnungen nicht schön? Vor allem die horizontale und vertikale Unterteilung in unzählige Subgenres. Mir ist auf dem Spielplatz ein neuer Freund aufgefallen, dessen Bedeutung mir bislang nicht ganz fassbar erschien: expanded music. Hier ein Versuch, mich dieser Begrifflichkeit anzunähern. Von Roberto Beseler Maxwell.
"Angel Death Traps" by Alexander Schubert at MINU 2024 © Tobias Nicolai
Aus Noies 03/25

1. Aus Rosalind Krauss, Sculpture in the Expanded Field, October, vol. 8, 1979, S.42.

2. Siehe auch Reise nach MINU: Das Unmusikalische als Musik aus NOIES 03/23.

3. Aus Michael Nyman, Experimental Music, Cambridge, UK 1974/1999, 2nd Ed., S. 11.

4. Siehe Murins Instagram Profil, → instagram.com/sandrismurins.

5. Als deutsche Übersetzung von “expanded” zu verstehen.

6. Johannes Kreidler, Der erweiterte Musikbegriff, in: Katalog zu den Donaueschinger Musiktagen 2014, Oktober 2014

7. Harry Lehmann, Gehaltsästhetik – Eine Kunstphilosophie, in: Wilhelm Fink, 2016
8. Demers, Joanna, Discursive Accents in Some Recent Digital Media Works, in: The Oxford Handbook of Sound and Image in Digital Media, Oxford Handbooks, 2013, S. 149.

Der englische Begriff der expanded music ist mir in den letzten Jahren vermehrt begegnet. Anfangs ist er mir nicht besonders aufgefallen oder ich habe ihn einfach ignoriert. Insbesondere durch meine Tätigkeiten beim MINU_Festival_for_expanded_music kam ich mit diesem Begriff jedoch direkt und quasi gezwungenermaßen in Berührung. Zu Beginn stempelte ich ihn als ein weiteres Substitut vom Anhängsel “für Neue Musik” bei Festivalnamen ab. Es kam mir wie eine nischigere Formulierung der mittlerweile typischen „für aktuelle Musik” oder des noch standardisierten “für zeitgenössische Musik” vor. Doch schnell bemerkte ich eine zusätzliche Bedeutungsebene. Der Begriff wirkt nicht nur als ein Platzhalter oder als markttechnische Differenzierung gegenüber anderen Festivals aus der Neuen Musik-Szene, sondern trägt genreartige Allüren in sich. Plötzlich stellen sich viele Fragen: Ist sie ein Subgenre Neuer Musik oder lebt expanded music als parallele Entwicklung ihr gegenüber? Aber vor allem stellt sich eine übergeordnete Frage: Was ist eigentlich expanded music? Ein Blick auf das MINU_Festival_for_expanded_music, hinter dem die künstlerischen Leiter Dylan Richards und Mikkel Schou stehen, hilft auf jeden Fall der definitorischen Eingrenzung. Obwohl es meiner Recherche nach das einzige Festival ist, das sich explizit diesem Begriff zuschreibt, ihn dabei aktiv erforscht und so dessen Kontext einen guten Startpunkt bildet, darf dieser nicht der alleinige Antwortgeber bleiben.

Ein kurzer Blick in die entsprechende Fachliteratur offenbart besonders eines: eine nicht existierende Abhandlung dieses Begriffs. Vielleicht wegen des relativ jungen Alters? Es finden sich jedoch Annäherungen, teilweise aus anderen künstlerischen Praxen, teilweise aus dem Bereich Neuer oder akademischer Musik kommend. Ein Essay, der in meiner Recherche oft rezipiert wurde, stammt von der US-amerikanischen Kunsttheoretikerin Rosalind Krauss und betitelt sich “Sculpture in the Expanded Field”. Auf diesen Essay beziehen sich sowohl die künstlerischen Leiter von MINU als auch Marko Ciciliani, Komponist und Autor des Essays “Music in the Expanded Field – On Recent Approaches to Interdisciplinary Composition”. Ausgangspunkt ihres Essays ist die Beobachtung einer Tendenz in den 1970ern dazu, eine große Bandbreite verschiedener künstlerischer Praxen als Skulptur zu bezeichnen, die zu dem traditionellen Verständnis des Begriffs keine Ähnlichkeit mehr aufweisen. Dabei teilen die Praxen kein spezifisches Medium, sondern eine Beziehung zu einer bestimmten kulturellen Situation:


Practice is not defined in relation to a given medium – sculpture – but rather in relation to the logical operations on a set of cultural terms, for which any medium – photography, books, lines on walls, mirrors, or sculpture itself – might be used.¹


Ciciliani erkennt in der heutigen Neuen Musik-Praxis Anzeichen für das Aufkommen dieser Tendenz. Die vorher genannten Leiter des MINU Festivals leiten ihr Motto des Unmusikalischen als Musik² hier von ab. Hiermit begeben wir uns in das erste von vier Merkmalen, die ich herausgearbeitet habe und in diesem Beitrag folgend beschreiben möchte.


Das Unmusikalische als Musik

Gewöhnlicherweise wird Klang als ursprüngliches und sinngebendes Medium von Musik verstanden. Folgen wir der krausschen Logik, eröffnet sich somit die Möglichkeit, auf weitere Medien zurückzugreifen, um Musik zu komponieren oder zu schaffen. Nimmt man somit den Klang aus Musik heraus? Kann Musik nicht klingen? Mikkel Schou und Dylan Richards sagen: Ja. John Cage stellte dies ja auch bereits 1952 mit 4’33’’ zur Debatte. Auch Robert Ashley geht 1961 so weit:


It seems to me that the most radical redefinition of music that I could think of would be one that defines ‘music’ without reference to sound.³


Wichtig sei jedoch die Frage nach dem Umgang mit dem Material. Also das Wie und weniger das Was, also mit welchem Medium gearbeitet wird, sei es Film, Performance oder Malerei. Das Wie muss eine kompositorische Komponente, das heißt, eine der Musik übliche Technik oder kompositorische Methoden, beinhalten. Das Unmusikalische wird durch die Verwendung einer kompositorischen oder musikalischen Herangehensweise letztendlich als Musik verstanden, obschon das Medium beispielsweise keinen Klang enthalten kann. Ein gutes Beispiel dafür ist das Stück Total serialization study (2022) des dänischen Komponisten Niklas Brandenhoff. Es handelt sich um eine Aneinanderreihung fotografischer Aufnahmen seines nackten Körpers, also eine Videoarbeit. Als klangliches Element enthält das Stück lediglich stellenweise weißes Rauschen. Brandenhoff verwendet dabei eine serielle Technik, um den Schnittrhythmus der Bilder zu bestimmen. Die Anzeigedauer der Fotografien wird also mittels einer musikimmanenten Technik ermittelt, sodass folglich von einem Schnittrhythmus gesprochen werden kann. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine musikalische Methode (der Serialismus) sowie eine musikimmanente Komponente (der Rhythmus) ein a priori nicht musikalisches Medium musikalisieren. Das Stück lebt dabei unabhängig von Klang.

„Total serialization study“ by Niklas Brandenhoff at MINU 2022 © Tobias Nicolai


Multimedialität

Die Verwendung verschiedener Medien, um Musik zu schaffen, stellt somit einen wichtigen Aspekt von expanded music dar. Ein interdisziplinärer Ansatz wird verfolgt, um musikalische Werke zu komponieren. Der selbsternannte expanded music influencer Sandris Murins definiert beispielsweise alle multimediale Musik als expanded, jedoch ist andersherum expanded music nicht zwangsläufig immer multimedial, da diese auch auf anderen Wegen erweitert werden kann. Einen grundlegenden Unterschied beziehungsweise eine Neuerung dieses Aspekts sieht Marko Ciciliani in der Tatsache, dass Komponist:innen Fähigkeiten aus nicht-musikalischen Praxen erlernen beziehungsweise sich aneignen und sie nicht wie bei herkömmlichen interdisziplinären Projekten auslagern. Er zitiert dafür Jennifer Walshe:


I realize the video parts in my work myself. Primarily this is because I want them to be an integral part of the composition – I wouldn’t outsource the cello part in a string quartet to someone else (unless that was the concept of the piece!) so why would I outsource the video part?


Die dafür nötige Aneignung neuer skills bedeutet das Recherchieren zum Hintergrund der Disziplinen, durch die erweitert wird. Genauso ist das Wissen um ihre Traditionen und aktuelle Diskurse wichtig. Die neuen Fähigkeiten könnten beispielsweise Programmieren, Schweißen, Schneiden von Videos oder Kostüm entwerfen sein.


Avantgarde

Johannes Kreidler versteht die Multimedialität von expanded music als Abkehr von absoluter Musik. Für den Komponisten dient die Erweiterung von Musik als ein Vermittlungsprojekt, um Anschlussfähigkeit auszubauen. In der heutigen Zeit eines fehlenden “kollektiven Erfahrungshintergrunds” sei absolute Musik nicht mehr selbsterklärend oder dessen Deutung selbstverständlich. Es brauche eine Vermittlung. Entweder wird das Werk durch außermusikalische Kommentare – etwa wie gewöhnlich in Programmheften – für das Publikum kontextualisiert, oder laut Kreidler: “Außermusikalisches wird in den Wahrnehmungskreis des Werks selbst integriert”⁶. Die wissensvermittelnden Elemente werden Teil des Werks und die Grenzen dessen weichen auf, sodass selbst ein Begleittext oder eine Dokumentation als Bestandteil des Werks miteinbezogen wird. Die Notwendigkeit der Vermittlung führt in diesem Zusammenhang zu einer Multimedialisierung des Musikwerks. Es ist daher als eine natürliche Weiterentwicklung von absoluter Musik zu verstehen, die heute in ihrer Vermittlung nicht mehr funktioniert. Zum einen aufgrund der Schwierigkeit, sie zu deuten, aber auch durch die Ausschöpfung instrumentalen Materials: “Wer für Geige schreibt, schreibt ab”. Eine Negation des Herkömmlichen oder Abkehr des Alteingesessenen ist somit Bestandteil einer Vision von expanded music und besitzt daher avantgardistische Züge. 

Mikkel Schou versteht die Entwicklung von expanded music als Teil der historischen Entwicklung von Neuer Musik und sieht daher im Kern das Prinzip der Avantgarde: das Brechen mit Tradition und Norm. Beginnend mit der Erweiterung von Klangtechniken und extended techniques und der Einbeziehung von Performance und Körperlichkeit bei Komponisten wie Heiner Goebbels und Mauricio Kagel, bis hin zum Einsatz von Computern und digitaler Kunst, ist expanded music wohl der heutige Bruch mit dem Vorangegangenen. Das Alleinstellungsmerkmal der jetzigen Erweiterung sieht Schou in der Relationalität, also in der Frage nach der Kontextualisierung des Kunstwerks und dem In-Beziehung-Setzen mit der Außenwelt. Der Musikphilosoph Harry Lehmann definiert dafür den Begriff der relationalen Musik.


Relationalität

Ein häufig erwähntes Merkmal von expanded music ist, dass sie im lehmannschen Sinne relational ist. Relationale Musik⁷ ist solche, die sich durch das Verweisen und die Beziehung zu etwas außerhalb ihrer selbst definiert und Fragen nach der Kontextualisierung des Kunstwerks stellt. Im Gegensatz zu konzeptueller Musik fokussiert sich die relationale Musik auf die Beziehung dieser Konzepte mit der Außenwelt, beispielsweise mit dem Publikum, den Institutionen oder der Gesellschaft. Sie reflektiert häufig soziale Strukturen sowie aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse und lädt zur kritischen Auseinandersetzung mit ihnen ein. Die Referenzen können jedoch auch popkulturelle sein oder aus dem Internet stammen, wie etwa Memes.

„Composite“ Dylan Richards and Lorenzo Colombo at MINU 2023 © Tobias Nicolai

Während die Multimedialisierung von Musik nach Kreidler dessen Vermittlung vereinfacht, stellt das außermusikalische Referenzieren, beispielsweise von Inhalten anderer Szenen oder Diskursen anderer künstlerischer Praxen, wiederum eine mögliche Ebene der Unverständlichkeit dar. Insbesondere wenn das Referenzierte dem Publikum unbekannt oder nicht greifbar ist. Während sich die Referenzquellen früher häufig auf diskursive Kontexte wie die klassische oder Neue Musik beschränkten, ist in expanded music der Pool des Referenzierten erheblich erweitert worden. Für Musikwissenschaftlerin Joanna Demers besitzen Werke discursive accents. Genauso wie gesprochene Akzente die Herkunft eine:r Sprecher:in enthüllen können, funktionieren diese als Indikatoren, die korrekt oder nicht, das Genre, den Stil oder das Medium anzeigen, in das ein Werk fällt. Wenn sie jedoch nicht verstanden werden, dann besteht die vorher angesprochene Verbergung von Wissen:


[…] discursive accents resituate the phenomenal qualities of voice (or sound, taken broadly) into an artwork, and divest sound of its signifying properties so that it can conceal, rather than reveal, meaning.⁸


Das häufige Referenzieren kann also eine zusätzliche Ebene der Unverständlichkeit mit sich bringen und Stücke von expanded music ambivalent darstellen. Dies lässt sich in beide Richtungen deuten – positiv wie negativ. Über diesen Aspekten hinaus bleibt letztlich die Frage, was das Neuartige bildet. Was wird beispielsweise gegenüber früher experimenteller und konzeptueller Musik in den 60ern oder der Fluxusbewegung erweitert? Weniger ausschlaggebend ist für mich die Multimedialität an sich. Natürlich ist heute die Verwendung von verschiedenen Medien weit verbreitet, wahrscheinlich liegt dies am erleichterten Zugang. Man könnte auch behaupten, dass mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen oder dass durch die Technologisierung von Musik eine größere Auswahl an Medien besteht. Ausschlaggebend für expanded music ist vielmehr die Frage, wie heute mit ihr umgegangen wird. Vielleicht liegt der Schlüsselpunkt in der Relationalität, ein mögliches Alleinstellungsmerkmal? Oder ist es vielmehr die Herkunft des Referenzierten – eine Loslösung des ursprünglich erlaubten Fremdmaterials?
Eine weitere Frage, die ich mir in diesem Kontext stelle: Geht mit dem Auftreten von expanded music innerhalb der Neuen Musik-Welt eine Verschiebung oder Erweiterung kuratorischer Verantwortung einher? Anders formuliert: Während künstlerische Leiter:innen vielleicht traditionellerweise absolute oder instrumentelle Musik programmieren, kuratieren Musikkurator:innen expanded music? Die zusätzlich einhergehenden Verantwortlichkeiten der Kuration von expanded music können tatsächlich dem Tätigkeitsbereich von Musikkurator:innen zugeordnet werden. Das zeitlich ähnliche Auftreten beider Begrifflichkeiten sowie ihrer Bedeutungsfelder weist auf eine mögliche Korrelation hin. Wie sie zusammenhängen, bleibt jedoch offen.

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Roberto Beseler Maxwell ist ein spanischer Kurator, Klarinettist und Kulturmanager. Seit 2018 lebt und wirkt er in Essen, wo er an der Folkwang Universität der Künste Musikwissenschaft und Klarinette studierte. Aktuell ist er Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Neue Musik Ruhr e.V. und Redakteur bei der NOIES Redaktion. → robertobeselermaxwell.com