NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

gedanken über kollektivität: making it work

Aus Noies 05/23 November 2023

Je größer die Gemeinschaft, desto mehr unterschiedliche Bedürfnisse treffen aufeinander. Wie kann man trotzdem gemeinsam an etwas arbeiten - und was können wir dabei von musikalischen Großformationen lernen? NOIES-Autorin Verena Hahn geht bei der Band The Dorf und dem Chor Glossa auf die Suche.
Glossa Chor
Glossa (Foto von Jonas Justen)
Aus Noies 05/23

elisakuehnl.de
http://thedorf.net/

»Vielleicht könnt ihr das mal so nacherzählen. Also, ihr kommt alle nach und nach an, und dann?«

Miri: »Dann wird erstmal gequatscht.« Thomas: »Und man sagt allen ›Hallo‹.« Miri: »Und es gibt vielleicht Snacks.« Thomas: »Und es kommen Leute früher, und Leute später.« Miri: »Und ich glaube, eine der ersten Sachen, die wir oft machen, ist durch den Ort zu gehen, an dem wir gerade sind. Und dann, ›Okay, ich geb’ jetzt mal ne 3‹.« Sophie: »Genau, wir gehen in verschiedenen Geschwindigkeiten. 10 ist das schnellste und 1 das langsamste. Elisa sagt dann z. B. ›Jetzt geht ihr mit ‘ner 5‹. Das ist schön, weil man sich eintuned. Man begegnet den anderen, man läuft an ihnen vorbei, mal schneller, mal langsamer, mal bleibt man stehen, und hat so einen ersten Kontakt, ohne Stimme.« Thomas: »Und es ist so inclusive, weil, dadurch, dass wir dann nicht miteinander reden, und dadurch, dass alle das gleiche machen, hat man das Gefühl, ich muss mich jetzt gar nicht beweisen, sondern mache einfach dieses Ding.« Sophie: »Voll, ja.« 

Diese schweigende, gehende Gruppe ist eigentlich ein Chor. Aber keiner mit Aufnahmeprüfung, Stimmenverteilung und Repertoire, sondern einer, der Geräusche macht, Landschaft und Architektur erkundet und Vögel imitiert. Ein Experimentalchor. Die Vokalistin Elisa Kühnl gründete den Chor, während sie im Masterstudiengang »Klang und Realität« am Düsseldorfer Institut für Musik und Medien studierte. »Ich möchte einen Chor aus vielen Stimmen formen. Ein Chor, der nicht wirklich singt, sondern aus Stimmen besteht, die mit ihrem eigenen Klang spielen. Erfahrung mit Chören oder Singen ist nicht nötig. Wirklich. Nicht schüchtern sein«, schreibt sie in ihrer ersten Einladungsmail im Januar 2020. Sie interessiert sich für das Fremde und Unbekannte in der Stimme: die zu laute, brüchige oder schiefe Stimme, die uns von Zeit zu Zeit mit Scham erfüllt.

Es folgt die erste Probe in der Hochschule, für die Freund:innen aus der Umgebung Fahrgemeinschaften organisieren; dann einige weitere Proben, dann ein Konzert in Tretbooten in Mülheim an der Ruhr. Es bildet sich eine große Sammlung von Geräusch- und Stimmübungen und ein fester, stetig wachsender Kern an Mitspieler:innen, die sonst Regie, Performance, Klangkunst, Tanz, Musik, Journalismus oder Hochschularbeit machen. Keine:r von ihnen ist Sänger:in.

Es entstehen Skizzen für Klang- und Bewegungsabfolgen, sogenannte Scores, die auf Konzerten aufgeführt werden können. Mit Stipendien können irgendwann Häuser in Wald- und Wiesennähe für verlängerte Probenwochenenden gemietet werden. Es folgen auch: ein Preis bei den Donaueschinger Musiktagen und ein Auftritt in der Kölner Philharmonie. Aber anstatt sich geradlinig in eine Richtung zu entwickeln, wird Glossa immer mehr: Früher »hätte man relativ einfach einen Infotext über Glossa schreiben und sagen können: Glossa ist eine offene Gruppe von Leuten, die sich ab und zu trifft und Musik ohne Worte macht«, sagt Thomas Meckel. »Diese Definition stimmt irgendwie zunehmend nicht mehr, und es wird sehr kompliziert zu definieren, was Glossa eigentlich ist.«

Auch The Dorf lässt sich kaum mit der Kategorie Band erfassen. Die Großformation von aktuell rund 25 Musiker:innen gibt es seit bald 20 Jahren und ist heute ein schwergewichtiger Fundus an musikalischen Ausdrücken, gemeinsamen Erinnerungen, Insidern, Verhaltensregeln, Konfliktkompetenz, Fragen, Fahrgemeinschaften, Antragstexten und Selbstdefinitionen. »Ich bin seit dem 2. oder 3. Konzert dabei«, erzählt Martin Verborg, mittlerweile neben Bandleader Jan Klare der Dorfälteste. »Am Anfang habe ich noch Saxophon gespielt, aber als Jan mitbekommen hat, dass ich auch Geige spiele, wurde ich zur Geige verpflichtet, was ich seitdem auch mache. Eine meiner Dorf-Erinnerungen ist, weil ich öfter mal Hunger habe, dieses unglaubliche Catering in Wien.« Markus Türk, Trompeter, lachend: »Da habe ich auch dran gedacht.« »Da sind wir mit dem Bus, was weiß ich, 14 Stunden nach Wien gefahren, kamen da an, mussten dann auch direkt spielen, und da gab es dann für 20 Leute 2 Päckchen abgepacktes geschnittenes Brot, ein Bund Bananen, eine Tüte Äpfel, 2 Packungen mit Schinken, also abgepackt, und 2 Päckchen mit Käse, und das lag auf dem Tisch, und das war das Catering. Also, sagen wir mal so, schlechter geht’s nicht (lacht). Das Konzert war aber sauber, das Konzert war unglaublich.«

The Dorf (Foto von Sara Förster)
The Dorf bei KUNST.LABOR.STADT.PLATZ in Marburg 2022 (Foto von Sara Förster)

The Dorf entstand 2006 aus einer der damals vielen regelmäßigen Reihen im Dortmunder Jazzclub Domicil. Saxophonist und Klarinettist Jan Klare brachte eine steigende Zahl von Musiker:innen aus dem Ruhrgebiet zum gemeinsamen Spielen zusammen, und irgendwann wurde aus einem Projekt eine Band. Seitdem zählt The Dorf um die 50 gemeldete und verzogene Anwohner:innen und rundherum bildete sich das »Umland«: ein Label und ein Ausdruck der Tatsache, dass sich die Großformation ständig in weitere Kleinformationen erweitert. The Dorf ist eine Gemeinschaft und ein gewaltiger Klangkörper, in welchem es sowohl auf musikalischer als auch sozialer Ebene ständig um die Aushandlung von Freiheit, Gesetz und Verantwortung zu gehen scheint. Das drückt sich aus in festen Songstrukturen und Liedtexten, Improvisation, lauten und leisen Instrumenten, Aufgabenverteilungen, etablierten und neuen Sitzordnungen. »Ein großes Potential dieser Band ist ihre Lautstärke. Ich finde aber im Grunde viel beeindruckender, wie leise wir mit so vielen Leuten spielen können. Das ist die eigentliche Qualität der Band«, sagt Markus. 

Im Vergleich zu The Dorf ist Glossa mit seinem dreijährigen Bestehen ein vergleichbar junges Projekt. Doch auch bei dem Experimentalchor wird langsam so etwas wie Glossa-Geschichte sichtbar. Nach 3 Jahren von Proben, die irgendwie anders ablaufen als normale Chorproben, Konzerten, die an Orten stattfinden, die nicht von Google Maps erfasst sind, und einer Chorleiterin, die nicht vorne steht, bildet sich ab, dass Glossa sich auf einem anderen Entwicklungspfad befindet als andere Projekte. »Glossa ist nicht karrieregeil«, sagt Sophie Emilie Beha, und meint damit wohl, dass der Chor sich nicht an den Spielregeln orientiert, die einer jungen Musikgruppe mehr Erfolg oder Sichtbarkeit versprechen. Mit wachsendem Selbstbewusstsein steht das Kollektiv dazu, dass bei Glossa die Laborsituation das Entscheidende ist und nicht die Aufführung. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, melden große Kulturinstitutionen wie die Kölner Philharmonie, die Brückenmusik oder der Bonner Kunstverein Interesse an. »Elisa und auch andere Leute machen sich gerade Gedanken darüber, wie Glossa neben dem gemeinsamen Arbeiten als Selbstzweck auch andere Funktionen erfüllen könnte, die auf der Bühne funktionieren. Ich glaube, Elisa hat Lust, auszuprobieren, wie das gehen kann, aber gleichzeitig hab ich auch das Gefühl, dass das häufig Quelle von Situationen war, die dann eher ein bisschen grübeliger waren als die Proben. In Proben habe ich manchmal beobachtet, dass Elisa häufig zurecht versucht, die Tatsache, dass wir bald eine Aufführung haben, für den Moment ein bisschen wegzuschieben«, sagt Thomas. Für die Konzerte werden plötzlich feste Abläufe nötig, für die erst mal eine Sprache gefunden werden muss. Elisa versucht, die Anweisungen so einfach und zugänglich wie möglich zu formulieren, damit alle sie verstehen können. Ein Zettel mit wenig Text in einem Haus voller großer Erwartungen, da können plötzlich Unsicherheiten auftauchen, die in den Proben keine Rolle gespielt haben. »Wenn wir ein Konzert haben, und wir haben dann ein DIN-A4 Papier mit ein paar Anweisungen, ein paar losen Notizen wie eine Art Score, dann denke ich manchmal: Das ist alles? Damit soll ich jetzt arbeiten?«, sagt Sophie. »Aber was es immer wieder zu einem tollen und funktionierenden Erlebnis macht, ist, dass wir uns so gut kennen und so viel Zeit miteinander verbringen. Dass wir eben nicht nur kommen und einen Score ausführen, sondern dass wir zusammen abhängen, essen und reden, und dass es so eine gute Gruppe von Menschen ist. Dann kann auch gute Musik entstehen, und dann kann man sich auch darauf verlassen, dass man im Moment was Gutes zusammen schafft.«

Der aussagekräftigste Moment der Begegnung mit dem Außen entsteht vielleicht dann, wenn Zuhörer:innen selber zu Glossist:innen werden – weil es ihnen so gut gefallen hat und sie mitmachen möchten und das auch können. Und so besteht die Beziehung zwischen Musik und Publikum nicht nur in einer Aufführung, die mit Applaus beendet wird, sondern eher in einer musikalisch-sozialen Praxis, die dazu einlädt, anders miteinander zu kommunizieren und etwas miteinander aufzubauen, das länger hält als ein Konzertabend.

Dass The Dorf ein Projekt ist, das länger hält als ein Konzertabend, zeigt sich wohl am besten an der Dauer seines Bestehens. Wie schafft es die Band, über bald 20 Jahre hinweg einen stetigen Nachwuchs junger Musiker:innen anzuziehen? Das hat auf jeden Fall mit einem Bandleader zu tun, der es schafft, an gesellschaftlichen Entwicklungen interessiert zu bleiben und sich offen mit ihnen auseinanderzusetzen, ohne Angst, dabei etwas zu verlieren – seine Position zum Beispiel. »Es gibt verschiedene Grundannahmen, auf denen ich diese Band gebaut habe. Eine dieser Grundannahmen ist, dass Musik für mich ein Medium ist, in dem man Dinge verwirklichen kann, die im Alltag erst mal nicht funktionieren. Sozusagen eine Emanzipation des Geistes, und diese Geister sind weder männlich noch weiblich, noch ein anderes Geschlecht, oder jung oder alt, sondern das sind einfach diese Geister, das Geistige. Die können miteinander in Kontakt kommen und da kann man eine Gleichberechtigung erfahren. Dafür muss man natürlich eine Basis schaffen. Durch die ganzen gesellschaftlichen Entwicklungen, dadurch, dass so viele Leute aus verschiedensten Richtungen immer schneller aufeinandertreffen, durch Migration und so weiter, müssen wir extrem lernen, unser Bewusstsein für die unterschiedlichen Realitäten zu erweitern. Das können wir in der Musik verankern, und wir sind jetzt so langsam an dem Punkt, wo wir das auch auf die Ebene des Alltags runterholen müssen. Das ist meine Schlussfolgerung.« 

Für Auseinandersetzungen dieser Art wurden kürzlich die »Freiwilligen sozialen Tage« ins Leben gerufen – zwei Tage, an denen Dorfmitglieder kurze Vorträge geben können, die sozialen Grundlagen der Zusammenarbeit reflektiert und Diskussionen geführt werden. Viele Fragen über das Miteinander in Kollektiven stellen sich heute anders als zur Gründungszeit von The Dorf, und seine große generationale Spannweite drückt sich auch in unterschiedlichen Dringlichkeiten und Bereitschaften aus, sich diesen Fragen zu stellen. Gar nicht so einfach, nicht in Handlungsunfähigkeit zu verfallen, wenn man sich der großen Differenzen unterschiedlicher Lebens- und Arbeitsrealitäten bewusst wird – kann man da noch einfach nur Musik machen, und was darf man eigentlich überhaupt noch? 

Bei The Dorf sind diese Diskussionen jedoch unmittelbar an die musikalische Arbeit angeschlossen, angefangen bei den Basics: dem gegenseitigen Zuhören. »Es geht darum, unser Improvisationskonzept weiterzuentwickeln und eine hohe Aufmerksamkeit dafür zu haben, was in der Band passiert. 90% hören, 10% reagieren, und das nicht unbedingt immer mit einem musikalischen Impuls, sondern von mir aus mit einer Veränderung der Aufmerksamkeit«, sagt Jan Klare. 

Welche Art des Dirigierens braucht eine Band, die sich ihrer Diversität bewusst wird? Band und Bandleader testen derzeit verschiedene Einflussmöglichkeiten aus, um eingespielte Dynamiken aufzubrechen. »Ich lasse mich da gerne korrigieren, aber ich habe seit einiger Zeit verstärkt wahrgenommen und auch versucht, zu thematisieren, dass die Frauen in der Band eigentlich immer ein bisschen mehr eine Aufforderung zum Solieren brauchen. Ich hab’ das Gefühl, es verändert sich etwas, wenn ich Platz freimache, den sie sonst nicht selbstverständlich einfach behauptet haben.« Ist das ein konsequentes Freiräumen von Zugängen, oder gut gemeinte Bevormundung?

E-Gitarristin Raissa Mehner sieht, dass der Weg zur Gleichberechtigung kein geradliniger ist. Wieder zeigt sich, dass es für diese Prozesse wenig Standardlösungen gibt. »Es sind nicht nur die »Frauen«, die sich nicht trauen, auch Andere neigen dazu, sich oft zurückzuhalten. Ich wäre mir da nicht sicher, ob das unbedingt mit dem Gender zusammenhängt. Und nicht zu spielen kann ja auch eine weise Entscheidung sein, um eine musikalische Situation zu retten. Bei »Frauen« wird das dann aber schnell als Sich-Nicht-Trauen missverstanden. In einer rollenbefreiten Umgebung ist man ja viel mehr, wie man eigentlich sein will, vielleicht vorpreschender oder ungehobelter, so geht’s mir jedenfalls. Diese Befreiung von den Rollen haben wir aber gesamtgesellschaftlich noch nicht. Deshalb find ich Eingriffe zum Abbau der alten Hackordnung notwendig, und eine Aufforderung zum Solieren kann gut sein und helfen.« 

Ohne Jan und Elisa als Leiter:innen wollen The Dorf und Glossa ihre Gruppen jedenfalls nicht denken. Viel Dankbarkeit liegt in den Worten, mit denen die Musiker:innen über die Köpfe der Gruppen sprechen. »Was ich toll finde, ist, dass immer noch über Musik gesprochen wird. Dass Jan bei jeder Probe anspricht, was er von der Band erwartet, was er sich musikalisch vorstellt und wir darüber sprechen, wo es hingehen soll. Das ist ein totaler Anspruch, und ich find’s oft auch schwierig, dem gerecht zu werden, muss ich sagen. Ich stehe dann oft da und bin mir unsicher, ob das jetzt gut ist, was ich mache, aber ich versuch’s«, sagt The Dorf-Saxophonist Markus. Thomas sagt über Elisa: »Es gibt diesen Elisa-Style, den alle ziemlich gut finden.« Der besteht unter anderem darin, Kommandos zu geben, viel zu klatschen, (»ich glaube, das kommt aus Elisas Erfahrung als Jugendpädagogin bei der Ruhrtriennale, wo sie große Banden von jungen Menschen betreut hat«), mit sehr impulsiven Anweisungen den Druck rauszunehmen, und Leute um Hilfe zu bitten. Elisa ist »ziemlich gut darin, Leute nach ihren Ideen zu fragen« und »sie ist so richtig gut im Icebreaken.« Jan komponiert Stücke und hat »einfach ultra geile Ideen«, dirigiert wie ein Fluglotse, führt viele Gespräche und hält sich in vielen Gesprächen zurück. 

Beide haben über die Jahre ihre eigenen Methoden entwickelt, die Gruppe künstlerisch und organisatorisch zu leiten. Die Musiker:innen von The Dorf beschreiben aber auch etwas indirekteres, das die Gruppe organisiert: eine Art über die Zeit entstandener Wertekonsens, dessen Feinheiten man nach und nach und durch Beobachtung herausfindet – oder, wie Raissa es beschreibt, indem man bei Bandkolleg:innen nachfragt, die man vielleicht schon aus anderen Bands kennt. »Man merkt dann, dass man nicht nur die coolen, gut bezahlten Gigs mitspielen und bei den anderen fehlen kann. Das hab ich auch nicht gemacht, aber ich habe dann mitbekommen, dass das ein absolutes No Go zu sein scheint. Oder Termine nachträglich abzusagen, weil man etwas besseres reinbekommen hat. Das muss man erstmal begreifen. Man kann nicht kommen oder gehen, wann man will. Die Verbindlichkeit ist sehr straight, auch wenn die Musik manchmal anarchistisch funktioniert.« Worauf ist diese Verbindlichkeit gebaut, wenn es nicht die Gagen sind? Für Martin ist es die Möglichkeit, mit jungen Musiker:innen zusammenzuarbeiten. Markus beschreibt es als ein Privileg, Teil eines solchen Klangkörpers zu sein. »Es gibt Momente, wo du einfach total glücklich bist, weil diese Musik so toll ist, die da gerade stattfindet, und du Teil davon bist.« Für Mirjam Berg ist Glossa ein Fixpunkt in Köln geworden, durch den sich die Stadt als sozialer Ort verändert hat. Und The Dorf-Sängerin Marie Daniels erzählt von einem kollektiven Solidaritätsfonds, der während der Pandemie allen offenstand, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren. Die Musiker:innen tragen die Gruppe, weil die Gruppe sie trägt. 

»Ich fand es früher bei Glossa voll schön, dass ich nichts machen muss, sondern da so mitmachen kann und über nichts nachdenken muss. Ich glaube, das ging halt, weil Elisa über viele Sachen nachgedacht und gut organisiert hat, oder viel Stress hatte und manchmal schlecht geschlafen hat«, sagt Thomas. Deswegen ist das Kollektiv Glossa gerade dabei, herauszufinden, welche Strukturen es braucht, um lange zu halten. »Elisa ist die Person, bei der die Fäden zusammenlaufen. Ich glaube, das wird sich auch nicht ändern, es ist ja auch ihr Baby und das soll auch so bleiben«, sagt Sophie. Trotzdem experimentiert Glossa gerade damit, wie seine Bestandteile einzeln oder in kleinen Zusammenschlüssen Autarkie übernehmen können, sodass vielleicht auch mal eine Probe ohne Elisa stattfinden kann. Den ›Freiwilligen sozialen Tagen‹ des Dorfs ähnlich fand ein Workshopwochenende im Makroscope in Mülheim an der Ruhr statt, mit Workshops von Glossisti für Glossisti. Dabei wurden Pilatespraktikerinnen, Journalistinnen oder Pendelbauer zu Lehrer:innen, und brachten dabei neue Möglichkeiten mit, was Leiten und Lernen bedeuten kann. Auf organisatorischer Ebene wächst das kollektive Verantwortungsbewusstsein, dass für Konzerte und Probenwochenenden Fahrpläne rausgesucht, Einkäufe gemacht, Übernachtungsmöglichkeiten organisiert und Fahrgemeinschaften gebildet werden wollen. Und für das Philharmoniekonzert wurde erstmals eine Produktionsassistenz eingestellt, die die Abläufe koordinierte und zum Beispiel sicherstellte, dass die Musiker:innen genügend zu trinken haben. 

Wie viel Struktur und Organisation es braucht, um in der Musik die größtmögliche Freiheit zu haben, ist auch bei The Dorf nicht in Stein gemeißelt. Die Band funktioniert derzeit durch die Arbeit einiger, die feste Aufgaben haben, und vieler anderer, die spontan Verantwortung übernehmen. »Johannes ist sozusagen unser Finanzchef. Mit dem zusammen betreibe ich The Dorf formell als GbR«, sagt Jan. »Johannes macht die ganzen Steuersachen und Buchhaltung. Das ist natürlich eine extrem wichtige Person. Er ist für einen Kollegen eingesprungen, der 2019 gestorben ist. Das hat eigentlich die Band gerettet, weil mir das komplett über den Kopf gestiegen wäre. Und ich könnte ganz viele Leute in der Band nennen, die Aufgaben übernehmen. Wenn wir auswärts spielen, gibt es immer Leute, die die Gästeliste machen oder Fahrgemeinschaften organisieren. Marie ist Bandsprecherin. Marvin macht unseren Youtube Kanal. Jakob schneidet Videos, und kümmert sich auch um die Verwaltung von Doodlelisten, weil wir immer ein halbes Jahr im Voraus fragen, wer bei den anstehenden Terminen dabei ist.« Es gibt also in beiden Gruppen Organisationsstrukturen, die man auch aus nicht-künstlerischen Organisationen kennt, und die an Positionen wie Leitung, Projektmanagement oder Öffentlichkeitsarbeit erinnern. Die offene Form, die sich jedoch vor allem bei Glossa findet, ist vielleicht Ausdruck der Tatsache, dass die Gruppe aus vielen Einzelnen besteht, deren jeweilige künstlerische oder nicht-künstlerische Arbeit, deren Wissen, Lebenserfahrung und Persönlichkeit die Möglichkeiten, was diese Gruppen sein könnte, quasi ins Unendliche potenziert. 

Mirjam, Thomas und Sophie unternehmen ein paar Versuche der Selbstdefinition: Glossa, ein Chor, eine Yogastunde für die Stimme, ein Labor, soziales Theater, ein amorphes Ding – bei welchem Fördertopf bewirbt man sich da eigentlich? Thomas erklärt, dass Glossa derzeit vor allem durch Recherchestipendien aus NRW- und bundesweiten Förderinstitutionen überlebt und ist froh über das in den letzten Jahren gewachsene Verständnis auf Fördererseite, dass künstlerische Arbeit weit vor dem Komponieren oder Aufführen eines Stücks beginnt. Inwieweit Recherche- und Arbeitsstipendien weiterhin eine verlässliche existenzsichernde Grundlage für Künstler:innen bleiben, ist jedoch angesichts der finanziellen Rückanpassung von Kulturförderprogrammen nach der Pandemie, während der viel Geld für ergebnisoffenes Arbeiten verfügbar gemacht wurde, eine offene Frage.

Nach meinem zweiten Interview für diesen Artikel, dem Gespräch mit Thomas, Miri und Sophie in Köln-Deutz, sitze ich in der Straßenbahn und denke über die Situationen nach, in denen ich Teil einer großen Gruppe bin. Mir fallen Familienfeste, mein Wohnhaus und mein Sportverein ein. Was ich damit verbinde, sind Stammtischsprüche, Anonymität und der Geruch von Sprühdeo und Schweißfüßen. Gibt es in diesen Räumen Kollektivität? Ich bin mir nicht sicher. Im Gespräch mit The Dorf und Glossa habe ich gelernt, dass Kollektivität entstehen kann, wenn man gemeinsam an etwas arbeitet. Zumindest für einen kurze Zeit können dabei Dinge, die einen sonst trennen, in den Hintergrund treten. Vielleicht reicht das für den Anfang, denke ich, und überlege, meine Nachbarin zu fragen, ob wir am Sonntag den Hof vor unseren Fenstern fegen wollen.

2019 entstand unter der Leitung von Elisa Kühnl der Experimentalchor Glossa, der in Köln zuhause ist. Der Chor gewann 2022 den Karl Sczuka Preis bei den Donaueschinger Musiktagen. Interessierte dürfen beim Chor mitmachen. Die Band The Dorf und ihre rund 25 Mitglieder werden seit 2006 von Jan Klare geleitet. 2013 erhielt The Dorf den Jazzpreis Ruhr und 2020 den WDR Jazzpreis. Die Band ist dem Ruhrgebiet verbunden und neben überregionalen Auftritten einmal im Monat im Dortmunder Domicil zu hören.