Von Philipp von Neumann
Als kreativ arbeitender Mensch war ich schon oft in großen Erschöpfungsphasen. Der Hauptgrund dafür war eine große Zerstreutheit und künstlerische Unsicherheit, die daraus resultierte, dass meine Arbeit nicht zielgerichtet war. Mein ständiges Arbeiten an Werkzeugen, die nicht in mein Werk integriert wurden, und die Arbeit an Nebenprojekten haben mir Energie geraubt und ich hatte große Probleme, künstlerische Entscheidungen zu treffen.
Eines Tages hat mir mein Freund Levin von einer Gemeinschaft erzählt, die ihre Verwendung von Technologie als Permacomputing versteht. Nach einer kurzen Recherche hat es bei mir Klick gemacht: von Permakultur hatte ich gehört und ich hatte vor kurzem noch von Maintenance Art gelesen. Ebenso habe ich Verbindungen zur Kybernetik gesehen. Schnell war bei mir der Begriff »Permacomposing« geboren, der viele meiner Probleme gelöst hat und all diese Strömungen vereint.
Permacomposing ist ein systemischer Ansatz für die eigene künstlerische Arbeit und lässt sich auf drei Grundprinzipien kürzen:
1. Der bewusste Umgang mit Materialien und Werkzeugen
Unter einem bewussten Umgang mit Materialien verstehe ich eine Reduzierung oder Wiederverwendung von Material. Material aus einem älteren Stück kann in einem aktuellen Stück auftauchen oder dieses beeinflussen. Viel zu schnell verabschiedet man sich von einem Material und hat es eventuell noch gar nicht begriffen. Ein musikalisches Beispiel ist »Woo Lae Oak« von Carl Stone. Über 53 Minuten breitet er eine mesmerisierende Klangfläche aus, die Resultat aus der Mikroskopierung von zwei Klangdateien ist. Allgemein ist der Minimalismus für diese Art von Materialbehandlung ein gutes Beispiel. Ich denke hier an La Monte Young und seine »Composition 1960 #7«, bei der nur eine Quinte zu hören ist, mit der Spielanweisung »to be held for a long time«.
In vielen Soundscapekompositionen wird nur das benutzt, was da ist, was bereits klingt in der Welt. In »It’s Gonna Rain« ließ Steve Reich ein Fieldrecording von einem geistlichen Prediger auf zwei Bandmaschinen parallel laufen und fand durch die technischen Imperfektionen der Geräte zu einem seiner Hauptthemen, dem Phasing.
Auch »Plunderphonics« von John Oswald ist ein Beispiel für Wiederverwendung von Material. Verwandt mit dem klassischen Sampling, aber eher als eine Art von musikalischer Collage, erstellt Oswald aus klar erkennbaren Versatzstücken bestehender Musik neue Werke. Mierle Laderman Ukeles hat in ihrem »Manifesto of Maintenance Art« (1969) die Care-Arbeit zu einer künstlerischen Praxis erhoben. So können wir das Verwalten oder Wiederverwenden von musikalischen Materialien als musikalische Praxis verstehen.
Als Komponist experimenteller elektronischer Musik bin ich immer wieder mit neuer Hardware und Software in Kontakt. Das meiste davon passt nicht in den Arbeitsprozess des Permacomposings. Eine bewusste Auswahl von Werkzeugen für mich bedeutet für mich, dass man sich möglichst unabhängig von kommerziellen Firmen macht. Ändert eine Firma eine Software und drängt einem ein Update auf, steht man evtl. vor dem Problem, dass die bisherige Arbeitsweise nicht mehr funktioniert. Das ist nicht nachhaltig. Deswegen greife ich, soweit es geht, auf Open-Source Software zurück oder schreibe sie mir direkt selbst. Open-Source Software ist meist kostenfrei und wird von einer Gemeinschaft an Programmier:innen verwaltet, die keine kommerziellen Interessen hat und jede:r kann sich einbringen.
Permacomposing bedeutet, dass man nicht auf jeden neuen Trend aufspringen sollte. Ein bewusstes Zögern und Abwägen bei technologischen Themen kann die eigene künstlerische Stimme eigenständig halten und man vermeidet ästhetische technologiebedingte Klischees.
Éliane Radigue z. B. hat in ihren elektronischen Werken fast ausschließlich ihren ARP 2500 Synthesizer benutzt. Und Conlon Nancarrow hat ab 1947 ausschließlich für Play Piano geschrieben.
Die Chiptune-Szene beschäftigt sich mit den Sound Chips aus alten Spielekonsolen und arbeitet sich an der technischen Limitierung dieser ab. Das ist nachhaltiger als der Überkonsum in der Synthfluencerszene. Daraus können andere Ideen entstehen, z. B. in Assembler Programmiersprache geschriebene Großwerke, wie die »1-Bit Symphony« von Tristan Perich. Diese hat er in minimalistischer Technik direkt auf einen Chip geschrieben, welches das Werk darstellt.
2. Der bewusste Umgang mit den eigenen Kapazitäten
Der bewusste Umgang mit den eigenen Kapazitäten hat mir geholfen, eine gesunde Arbeitsroutine zu finden, Dinge fertigzustellen und mich besser bei der Arbeit zu fühlen. Dafür muss man sich beobachten. Wann am Tag gelingt es mir am Besten, meine Arbeit zu tun? Wie viel kann und möchte ich leisten?
Für mich funktioniert eine feste Routine am Besten. Jeden Tag zu einer festen Uhrzeit arbeiten, ein Mindestpensum schaffen und schnell bin ich mit meiner kreativen Arbeit zufrieden und ich komme jeden Tag ein wenig mehr voran. Gleichzeitig lernen wir gerade von der Gen-Z, was es bedeutet, sanft mit sich zu sein. Diese beiden Punkte vereinbar zu machen ist ein stetiger Prozess. Es gibt in meiner Arbeit keine Tabula rasa mehr. Ich fange nicht mehr bei jedem Werk von vorne an. Alte Ideen bleiben bestehen. Deswegen erlaube ich mir eine Selbstähnlichkeit in meiner Arbeit und nehme Werkzeuge aus meinem bisherigen Schaffen mit in neue Arbeiten. Dadurch kann sich eine ästhetische Stringenz entwickeln, eine Handschrift wird erkennbar.
3. Ein vernetzter und diverser Arbeitsansatz
Der letzte Punkt des Permacomposingkonzepts ist, seine Arbeit als ein vernetztes System zu sehen. Wir alle sind Teil einer Gemeinschaft. Wir haben unsere Ideen nicht für uns alleine, sie entspringen unserem Umfeld. Deswegen sollten wir uns aktiv in die Gemeinschaft einbringen. Teile deine Ideen und Gedanken, teile deine Werkzeuge und dein Wissen und sei empfänglich für Neues. Erkunde die Verbindungen in deiner Arbeit. Materialien und Werkzeuge sollten nicht für sich alleine existieren. Bringe sie zusammen, lasse Systeme entstehen, in denen viele unterschiedliche Dinge sich gegenseitig beeinflussen.
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Der Musiker und Komponist Philipp von Neumann (geboren als Philipp Neumann) ist in die Tristesse des Essener Nordens hineingeboren. Seit 2021 studiert er elektronische Komposition an der Folkwang Universität der Künste in Essen und beschäftigt sich mit deterministischen algorithmischen Prozessen und extremen Klängen im Spannungsfeld von Noise und Meditation.