Von Salim(a) Javaid
In letzter Zeit habe ich intensiv über die zeitgenössische Aufführungspraxis in der Neuen Musik nachgedacht, insbesondere in Bezug auf Ur- und Wiederaufführungen. Die zentrale Frage, die sich mir stellt, ist: Wie viel ‚Neu‘ benötigt die Neue Musik wirklich? Und ab wann wird etwas, das einst neu war, bereits als alt angesehen? Diese Überlegungen sind entscheidend, da sie unsere Herangehensweise an Repertoire, Programmentwicklung und Kuratierung beeinflussen.
Bei der Analyse von Konzertprogrammen etablierter Neue Musik-Festivals in Europa wird schnell klar, dass Uraufführungen einen hohen Stellenwert haben. Oft wird im Titel der Veranstaltungen explizit auf Uraufführungen, nationale Erstaufführungen oder Erstpräsentationen hingewiesen. Die Uraufführung als Qualitätsmerkmal – der Glanz des Neuen, das einmalige Event, die Neugier auf das Unbekannte – ein Magnetismus und Appeal, den ich nur zu gut nachempfinden kann! Wie oft hat mich die Aussicht auf “das neue Stück von Komponist:in XY” in den Konzertsaal gezogen, in der Hoffnung, Teil eines einmaligen musikalischen Moments zu sein! Abseits von Festivals lässt sich manchmal eine ähnliche, manchmal eine andere Beobachtung machen: Das Verhältnis von Uraufführungen und Reprisen fällt in der Freien Szene und bei Konzertreihen je nach Saison extrem unterschiedlich aus. Meine Überlegungen sind nicht als Kritik an der Vielzahl an Uraufführungen in großen und kleinen Festivals sowie bei selbstkuratierten Projekten zu verstehen. Neue Werke beleben das Musikleben und bedeuten nicht zuletzt auch bezahlte Arbeit für Komponist:innen.
Dennoch stellt sich die Frage: Was passiert mit einem neuen Werk nach einer gelungenen Uraufführung? Wie oft wird es aufgeführt? Ist unser Umgang mit Repertoire nachhaltig? Interessiert sich jemand außerhalb unserer Blase für das Prädikat Uraufführung?
In unserer Szene ist es bekannt, dass häufige Wiederaufführungen eines Werks eine Herausforderung darstellen. Zum Beispiel gibt es oft Schwierigkeiten, Fördermittel für Projekte zu erhalten, die als ’nicht innovativ‘ gelten. Bei einigen Festivals ist eine Wiederaufführung auch ein Ausschlusskriterium, bzw. es ist nicht leicht, für eine siebte Aufführung eines Werks bei Veranstalter:innen zu argumentieren. Die Möglichkeiten zur Wiederaufführung im Vergleich zur Uraufführung sind – bis auf Ausnahmen von Instant Hits oder Werken, die auf Tournee gehen – begrenzt. Insbesondere größere und aufwändigere Werke (wie beispielsweise Concerti, Werke für Orchester oder großes Ensemble, abendfüllende Werke) werden seltener aufgeführt, was für viele Beteiligte enttäuschend ist. Zuhörer:innen haben nicht die Möglichkeit, ein Werk mehrmals zu hören, um es wirklich zu durchdringen; Interpret:innen arbeiten ständig an neuem Repertoire mit unterschiedlichsten Anforderungen und können nicht immer das volle Potenzial der Komposition und ihrer Interpretation ausschöpfen; und Komponist:innen erleben im schlimmsten Fall nur eine einmalige Einstudierung oder Aufführung ihres Werks, das unzählige Stunden und Mühen gekostet haben könnte. Im Folgenden gehe ich auf die drei Personengruppen genauer ein.
Zuhörer:innen
“Die Kunst, zu hören, ist wenig geübt. Man hat immer seltener Gelegenheit, ein Werk neuer Musik mehrmals in Konzerten zu hören, und nur wenige machen sich die Arbeit, ein auf Schallplatte oder Tonband aufgenommenes Werk immer wieder zu hören, bis sie es wirklich kennen”, sagt Karlheinz Stockhausen in zwei Vorträgen, die er 1980 und 1982 jeweils an der Universität Mainz und am Koninklijk Conservatorium Den Haag hielt. “Immer schon gab es in der Kunstmusik viel mehr zu hören, als man hören konnte. Es gehört sogar wesentlich zur Kunstmusik, daß in einem Werk mehr geschieht, als man im Moment des Hörens bewußt wahrnehmen kann” – das gilt sicherlich ebenso für (Post-)Serialismus als auch für die vielen Spielarten unserer heutigen Musiklandschaft.
Die zeitgenössische Musik ist in Bezug auf Parametrik möglicherweise noch reichhaltiger und komplexer geworden: Viele Klangphänomene, die einst als objet trouvé in das Klangrepertoire eingeführt wurden – erweiterte Spieltechniken und ein wachsendes Arsenal an Instrumenten – erfahren heute einen hohen Grad an Differenzierung und Gestaltung. Im Sinne der Werke selbst sind einmalige Aufführungen bzw. das einmalige Hören demnach unzureichend.
Wenn wir beispielsweise in eine Mahler-Sinfonie oder ein Rezital mit Standardrepertoire gehen, erkennen wir keine Qualitätsminderung darin, dass es sich um die x-te Aufführung handelt. Vielmehr blicken wir gespannt auf die Interpretation. Ist das überhaupt in ähnlichen Maße auch bei der Interpretation Neuer Musik der letzten drei Jahrzehnte, geschweige denn Uraufführungen möglich?
Interpret:innen
Die Aufführungspraxen von Klassik und Neuer Musik lassen sich nicht eins zu eins vergleichen. Interpret:innen Neuer Musik hantieren mit einem jungen Repertoire, müssen sich auf neue, riskantere Werke einlassen, was dementsprechend andere Fähigkeiten erfordert. Bei einigen Kompositionen stellt sich zudem die Frage, wie viel Interpretation im eigentlichen Sinne erwünscht ist, da Aspekte der klassischen Interpretation zugunsten von Präzision und einer “neutralen“ oder quasi-elektronischen Ausführung zurücktreten könnten. Gerade weil neue Werke neue Fähigkeiten verlangen und oft komplex sind, könnte eine Vielzahl von Aufführungen besonders spannend sein. Vielleicht gibt es Werke, die aufgrund ihrer “Sperrigkeit“ erst nach vielen Aufführungen ihr volles Potenzial entfalten. So wie sich Zuhörer:innen in die neue Klangwelt, musikalische Sprache und Denkweise einer:eines Komponist:in einhören müssen, benötigen auch Interpret:innen viel Zeit und Arbeit, um sich mit komplett fremdem Material vertraut zu machen – dies dürfte umso mehr gelten, wenn die Arbeit der:des Komponist:in bisher unbekannt oder nicht vertraut war.
Es ist nachvollziehbar, dass ein vielbeschäftigtes Ensemble mit begrenzten Probenzeiten nicht unendlich viel Zeit in jedes einzelne Werk investieren kann. In solchen Kontexten könnten effektive und “klare“ Werke bevorzugt werden, während “merkwürdige“ und “sperrige“ Stücke möglicherweise nicht die nötige Erarbeitung erfahren, die sie zur Entfaltung benötigen. Gerade in diesen „sperrigen“ und weniger effektiven Werken könnte jedoch ein spannendes Potenzial für Innovation liegen, das eine andere Art der Arbeit erfordert – nämlich eine Herangehensweise und ein Tempo der Einstudierung, die es ermöglichen, dass Werke erst nach mehreren Proben und Aufführungen ihre volle Wirkung entfalten. Dies könnte den Interpret:innen erlauben, sich intensiver mit den Kompositionen auseinanderzusetzen und womöglich sogar neue künstlerische Wege zu eröffnen.
Da die Ansprüche an die Interpretation von der des Standardrepertoires abweichen, rückt das Werk selbst in den Fokus: Ist die Komposition und ihre Interpretation gelungen? Und wie kann etwas wirklich Neues hörbar gemacht werden?
Komponist:innen
Der Stellenwert der Uraufführung hat auch einen großen Einfluss auf die zeitgenössische Kompositionspraxis. Uraufführungen sind für alle Beteiligten Highlights, bei denen in der Regel auch die Komponist:innen selbst zugegen sind. Die Uraufführung markiert einerseits den Abschluss eines langen künstlerischen Prozesses und geht oft mit einem großen emotionalen Aspekt einher. Gleichzeitig ist die Uraufführung oftmals auch nur der “erste Blick” auf das neue Werk – viele Komponist:innen verfeinern ihre Stücke nach der Uraufführung weiter; viele Interpret:innen benötigen mehrere Aufführungen, um das neue Werk wirklich zu verinnerlichen.
Doch viele Werke warten nach ihrer Uraufführung auf eine Wiederaufführung oder fristen ein Schubladendasein. Scharf formuliert: Komponist:innen treffen vielleicht schon vor der Kompositionsarbeit, nämlich bei der Auswahl von Instrumentationen und Setups oft Entscheidungen, die die Wiederaufführungsfähigkeit beeinflussen. Ein kurzes Kammermusikstück lässt sich leichter in Programme einfügen als aufwendige Großprojekte.
2023 führten wir mit dem Trio Abstrakt das Gesprächskonzertformat “Chambers“ ein. In der Diskussion über nachhaltige Aufführungs- und Kompositionspraxis äußerten verschiedene Komponist:innen kritische Gedanken zum Uraufführungsfetischismus und dem Stellenwert der – polemisch formulierten – “Jungfräulichkeit” eines Werkes. In anderen Kunstsparten wie Tanz und Theater hat die Wiederaufnahme eines Werks einen anderen Stellenwert und spiegelt häufig die hohe Qualität des Stücks wider.
Ein Fazit dieser Diskussion war, dass die kuratorische Ausrichtung einer Veranstaltung über die Zusammenstellung von Ur-, Erstaufführungen und Reprisen entscheiden sollte – so könnten beispielsweise einige thematisch/kuratorisch passende, jedoch ansonsten in Vergessenheit geratene Perlen des Repertoires wieder neu entdeckt werden. Das Prädikat ‚Uraufführung‘ ist aus meiner Sicht für ein ‚fachfremdes‘ Publikum in einem Konzert Neuer Musik nicht besonders relevant. Wenn die Werke dem Publikum ohnehin bislang unbekannt sind, ist alles neu.
Wie viel “Neu” braucht also die Neue Musik? Unter dem Aspekt künstlerischer Qualität würde ich sagen: nicht so viel. Interpretationen sind teilweise erst nach vielen Aufführungen des Werks wirklich ausgereift. Es wäre also wünschenswert, wenn Veranstalter:innen mehr Reprisen von Werken der letzten vier bis sechs Jahrzehnte programmieren könnten, ohne an Publikumszahlen oder Renommee zu verlieren. Dies muss nicht zwangsläufig mit geringeren Honoraren für Komponist:innen einhergehen – vielleicht lassen sich Auftragsfrequenz und -honorierung anders abstimmen, wenn mehr Reprisen im Programm den Uraufführungsanteil reduzieren. Darüber hinaus möchte ich dafür plädieren, Komponist:innen bessere Honorare für Revisionsarbeiten sowie Anwesenheit bei Proben und Reprisen anzubieten. Das “Uraufführungen-Hamsterrad“ erzeugt enormen Leistungs- und finanziellen Druck auf Komponist:innen, sodass sie in einer hohen Frequenz neue Werke schaffen müssen. Dies kann im Widerspruch zu dem Ziel stehen, Werke zu komponieren, die zu einem zukünftigen Standardrepertoire reifen.
Vielleicht könnten wir ein Gleichgewicht schaffen, ohne den “Uraufführungsfestivals” zu schaden. Reprisen, die kurz nach den Festivals stattfinden, könnten den Magnetismus der Uraufführungen stören. Dennoch könnte es hilfreich sein, zusätzlich zu diesen Uraufführung-Festivals auch Recyclingfestivals und Konzertreihen zu etablieren, die sich beispielsweise auf mindestens zehn oder zwanzig Jahre alte Werke konzentrieren. So könnten wir Repertoirepflege betreiben und dafür sorgen, dass weniger Werke in der Schublade verstauben.
Wir alle spüren die aktuellen und bevorstehenden Kürzungen bei den Förderinstitutionen, die tiefgreifende Veränderungen für die Kulturlandschaft mit sich bringen. Es ist notwendig, einen neuen Umgang mit dem bestehenden Repertoire sowie mit zukünftigen Werken zu finden. Denn das derzeitige Pensum lässt sich unter den gegebenen Umständen nicht dauerhaft aufrechterhalten.
Was können wir also tun? Meine subjektive Erfahrung als Interpret:in und Zuhörer:in reicht nicht aus, um ein abschließendes Fazit zu ziehen. Doch ich bin überzeugt: Wir müssen netter zu unseren Werken sein! Ich werde mich bei der Erstellung eigener Programme für mehr Reprisen einsetzen und die wiederholte Aufführung meiner Lieblingsstücke als das Happening schlechthin betrachten. Vielleicht überträgt sich diese Begeisterung auch auf die Personen, die unsere Musik hören und veranstalten.
Salim(a) Javaid ist ein:e tschechich-pakistanische:r Saxophonist:in und Improviser und als Solist:in und Gründungsmitglied der Neue Musik Formation Trio Abstrakt tätig. Javaid studierte klassisches und Jazzsaxophon sowie Neue Musik und Improvisation an der Folkwang Universität der Künste Essen und der HfMT Köln, und studiert zurzeit im Exzellenzprogramm „Konzertexamen” der Folkwang UdK bei Prof. Barbara Maurer.