NOIES MUSIK
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gespräch mit cem kaya: der sound von import-export

Aus Noies 01/23 April 2023

Mit dem Zuzug türkeistämmiger Arbeiter:innen vor rund 60 Jahren entwickelte sich eine komplexe Musikkultur, die die deutsche Öffentlichkeit lange ignorierte. Cem Kaya erzählt in seinem preisgekrönten Film »Ask, Mark ve Ölüm - Liebe, D-Mark und Tod« ihre Geschichte, die nicht vom Rassismus im Nachkriegsdeutschland zu trennen ist, und ihm doch triumphierend ins Gesicht lächelt. Im Gespräch mit Verena Hahn spricht der Filmemacher über die Strukturen, die die freie Szene der Einwander:innen aufbaute.
Der Hochzeitsmusiker Rüştü Elmas in einer Szene von »Aşk, Mark ve Ölüm«. © Filmfaust/Film Five
Aus Noies 01/23

Auf der Website von »Ask, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod« könnt Ihr herausfinden, wo der Film in Eurer Nähe gezeigt wird. Den Soundtrack könnt Ihr auch schon zuhause hören, wenn Ihr den Filmtitel bei Spotify eingebt.

askmarkveolum.de

Verena Hahn:
Im Film gibt es eine Szene mit dem deutsch-türkischen Sänger Muhabbet, in der er davon spricht, wie viel es ihm bedeutet hätte, wenn er schon früher von der reichhaltigen Musikkultur türkeistämmiger Musiker:innen gewusst hätte. Mit welcher Musik bist Du aufgewachsen?

Cem Kaya:
Ich bin mit türkischer Musik aufgewachsen, aber im Glauben, dass die Musik aus der Türkei, der alten Heimat, kommt. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, dass viele der Künstler:innen, die wir damals gehört haben, in Deutschland leben. Hätte ich gewusst, dass das in Köln oder München stattfindet, wäre ich da ja mal hingefahren. Das ist das, was Muhabbet damit meint. Er weiß eben nicht um seine eigene musikalische Vergangenheit. Und um seine Geschichte im Allgemeinen, weil unsere Geschichte ja immer verschmolzen mit der Nachkriegsgeschichte Deutschlands erzählt wird. Wir kommen da irgendwie drin vor, aber unsere Stories werden ja nicht erzählt. Diese Sichtbarkeit, dieses »Ah, schau mal, wir haben hier eine Identität, und werden wahrgenommen« – ich glaube, darum geht es. Muhabbet war ja auch der Erste, der in der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen wurde. Er war im Fernsehen, er war in den Charts, seine Musik wurde in den deutschen Plattenläden verkauft. Vor Muhabbet gab es das eigentlich nicht. 

Aber Muhabbet hat zu der Zeit in Köln gelebt. Er ist ein kölsche Jung und kennt Yüksel Özkasap, die Nachtigall von Köln, nicht. Und der Laden vom Label Türküola, der war ja auf den Ringen. Der hätte da einfach mit der U-Bahn fahren können.

VH:
Türküola entstand 1964 als erstes Label in Deutschland, das sich auf türkischsprachige Musik konzentriert. Wer waren die Personen, die zu der Zeit Labels für türkischstämmige Hörer:innen gründeten?

CK:
Das waren Personen, die bereits Import-Export-Geschäfte gemacht haben. Türküola wurde von Yılmaz Asöcal geführt, der seit den 1950er Jahren in Deutschland studierte, und mit Import-Export angefangen hatte. Als die ersten Gastarbeiter:innen kamen, ist er zu den Arbeiter:innenheimen gegangen, und hat aus dem Auto heraus Sachen verkauft, von denen er dachte, dass es das in Deutschland nicht gibt.

Er verkaufte auch Musik und merkte bald, dass es dafür einen Markt gibt. Als er immer wieder nach dem Sänger Metin Türköz gefragt wurde, nahm er ihn unter Vertrag und brachte die ersten Platten mit ihm heraus. Bei den Labels Uzelli in Frankfurt und Minareci in München war das ähnlich. Das waren immer erst Läden, bevor es Firmen wurden. Auch interessant ist, dass alle diese Läden am Bahnhof waren. Uzelli hatte seinen Laden hinter dem Hauptbahnhof in Frankfurt, Minareci hinter dem Münchener Hauptbahnhof. Der Bahnhof war ja eigentlich der erste Ort, wo alle hingekommen sind. Den konnte man nicht verfehlen. Viele Arbeiter:innen konnten ja keine Adressen lesen und wussten nicht, wo sie hingehen sollen, und der Bahnhof ist ein großes Monument, wo man sich halt immer treffen kann. Die Läden haben dann erstmal mit Importen angefangen. Erst haben sie Musik in der Türkei lizenziert und hier vertrieben, und dann hat sich das weiterentwickelt mit Künstler:innen aus Deutschland.

Der Kassettensammler Ömer Almanya’dan. © Filmfaust/Film Five

VH:
Du hast mal erzählt, dass die Kassetten teilweise an der Metzgertheke verkauft wurden. Kannst Du uns etwas zu diesen ungewöhnlichen Vertriebswegen erzählen?

CK:
So ungewöhnlich ist der Vertriebsweg nicht. Die Import-Export-Läden haben ja einfach mit dem, was sie angeboten haben, die Bedürfnisse der Migranten und Migrantinnen befriedigt. Du musst dir vorstellen, dass du in den 1960er, 1970er Jahren in Deutschland keine Auberginen kaufen konntest . Nach 1973, nach dem Familienzuzug, hat sich hier etwas geändert. 1973 war die Zeit der Ölkrise und Massenentlassungen. Aber die Leute wollten nicht zurück, weil die politische Lage in der Türkei auch instabil war. Also holten sie eher ihre Kinder hierher, damit die da nicht bei Gefechten umkommen, weil sich dort Linke und Rechte auf der Straße die Köpfe einschlugen. 

Die Familienzusammenführung hat dazu geführt, dass das militärische Single-Leben der Gastarbeiter:innen plötzlich passé war, also, dass man in Sechserzimmern gelebt hat, zur Arbeit gegangen ist und draußen schnell irgendwas gegessen hat. Das Leben wurde konservativer, und so entstand auf einmal ein Markt, der bedient werden wollte. Da kamen eben diese Import-Export-Geschäfte ins Spiel. 

Viele Leute haben sich auch selbstständig gemacht, weil sie das als eine Möglichkeit gesehen haben, der Arbeit und den Hierarchien in der Fabrik zu entkommen. So sind viele Restaurants, Dönerläden oder Import-Export-Läden entstanden. 

Diese Import-Export-Läden hatten vier bis fünf Funktionen. Man konnte dort helal Fleisch kaufen. Dann dienten sie als Reisebüros. und gleichzeitig auch als Bestattungsinstitute. Wenn jemand verstorben war, haben diese Läden die Überführung in die Türkei organisiert. Und dann waren das auch noch Videotheken, wo man Filme ausleihen und Musikkassetten kaufen konnte. Und für den hart malochenden Arbeiter war es natürlich gut, das alles an einem Platz zu haben.

Aber ich habe in einer Ausgabe der Hürriyet aus den späten 1970er Jahren eine Anzeige gefunden, da steht drin: »Fragen Sie in Ihrem Kaufhof nach Türküola-Kassetten.« Das bedeutet also, diese Kassetten gab’s anscheinend auch im Kaufhof. Ich weiß aber nicht, wo die da platziert waren, in welcher Menge es sie gab und ob es kompetente Verkäufer:innen gab, die die Leute beraten konnten. 

VH:
Die türkischstämmige Musik in Deutschland war von Anfang an sehr politisch. In dem Lied »Liebe Gabi« wendet sich die Gruppe Derdiyoklar an eine fiktive deutsche Frau, und fragt sie, wie sie die schlechten Lebensbedingungen der Migrant:innen ignorieren kann. 

CK:
Derdiyoklar waren sehr politisiert und haben auch auf Hochzeiten linkes Liedgut aus der Türkei gesungen. Zum Beispiel Songs wie »Yaz Gazeteci«: »Schreib’ Journalist, schreib’ nicht nur über die Reichen und Schönen, schreib’ auch über die Armen auf dem Dorf«. Derdiyoklar haben nicht nur die Halay-Tänze und die normale Volksmusik gespielt, sondern immer wieder auch ein kritisches Lied. Und die Leute haben das auch gerne gehört, weil die türkische Volksmusik ja per se eine kritische ist. In der Türkei gibt es die Figur des Volkssängers, des Aşık. Das ist ein Wandersänger, der mit satirischen Songs von Dorf zu Dorf wandert. Er improvisiert eine Melodie und singt darüber. Das sind Kommentatoren und Chronisten ihrer Zeit. Diese Aşık-Tradition ist mit rübergewandert nach Deutschland. Es gibt auch Aşık-Battles, das heißt, da sitzen mehrere Aşıks. Einer sagt in einem Vierzeiler was zum anderen, und dann antwortet der andere, und das ist meistens total lustig. 

Der Liedermacher Metin Türköz, der in den 1960er Jahren nach Deutschland kam, kommt auch aus der Aşık-Tradition. Und weil er nicht die Zustände aus der Türkei kommentieren kann, kommentiert er die Zustände in Deutschland. Auch der Rockmusiker Cem Karaca, der in den 1960er und 70er Jahren durch westliche Interpretationen von türkischer Volksmusik bekannt wurde, hat ja nichts anderes gemacht als die Musik der Aşık-Kultur zu modernisieren. Diese Tradition des Improvisierens und Kommentierens zieht sich durch die gesamte türkische Musik, das siehst du dann auch im Hip Hop. Das ist auch nichts anderes als im Freestyle, wo man Reime über einen Beat improvisiert. Ich will da keine rote Linie ziehen, aber im Grunde ist das nicht weit voneinander entfernt.

Die »Köln’ün Bülbülü« (Nachtigall von Köln), Sängerin Yüksel Özkasap. © Filmfaust/Film Five

VH:
Die Hochzeitsfeiern haben die türkisch-deutsche Musik sehr stark geprägt. Wie kann man sich diese Hochzeiten vorstellen? Im Film heißt es, dass die Feiern teilweise 1000-2000 Gäste hatten.

CK:
Es gab ja nicht viele Möglichkeiten, Livemusik zu hören. Es gab Gazinos, also Musikrestaurants, aber dahin ging man eher nicht mit der Familie, denn das war eine männerdominierte Welt. Also war die Hochzeit eigentlich der einzige Ort, wo sich alle treffen konnten, um Livemusik zu hören und zu tanzen. Die fanden damals in Mehrzweckhallen oder Gemeindesälen statt, weil es eben diese professionellen Hochzeitssäle noch nicht gab. Da war dann der Basketballkorb dekoriert, und darunter saß das Pärchen. Das waren natürlich auch Hochzeitsbörsen, wo die Mütter geschaut haben, wer mit wem könnte, und wo auch Mädchen, die ja eigentlich nicht raus durften, eine Plattform hatten, um mal tanzen und das andere Geschlecht sehen zu können

Es war also völlig egal, ob man eingeladen war. Da war offene Tür, und dann ist man da hingegangen und hat gefeiert. Da gab es dann einen Hähnchenwagen, und das war der Klassiker: Hähnchen, Reis und Eingemachtes auf Plastikteller mit Cola und Fanta. 

VH:
Wahrscheinlich gibt es in privaten Sammlungen und Archiven unglaublich viel zu finden. Wer, außer Dir, dokumentiert in Deutschland noch die türkeistämmige Musikkultur?

CK:
Da gibt es tatsächlich wenig. Es gab z.B. Ausstellungen wegen 60 Jahren Gastarbeiterabkommen. Sonst ist das DOMiD in Köln eine ganz wichtige Institution, die das macht. Der Verein Bi’bak in Berlin zeigt z.B. Filme über diese Zeit. Darüber hinaus gibt es in fast jeder Stadt irgendeine Initiative, die sich darum bemüht. Aber eine zentrale Anlaufstelle gibt es nicht.

Der Bağlamaspieler İsmet Topçu. © Filmfaust/Film Five

VH:
Viele der Künstler:innen, die Du porträtiert hast, waren Lokalgrößen, die über die Stadt hinaus schon nicht mehr bekannt waren – auch bei türkeistämmigen Bürger:innen nicht. Was bedeutet Dein Film der türkeistämmigen Community?

CK:
Für die Künstler:innen war das natürlich eine große Sache. Zum Beispiel für İsmet Topçu, dem Bağlamaspieler aus Bielefeld, der das Instrument Bağlama revolutioniert hat. Aus drei Doppelsaiten hat er vier gemacht, mit einer zusätzlichen Basssaite. Er hat den Daumen eliminiert, mit dem man die Bağlama normalerweise spielt, und dadurch kann man sie so spielen wie eine Gitarre. Darüber hat er Bücher geschrieben. Der Typ ist eine Legende unter Bağlamaspielern, aber er sitzt halt in Bielefeld und der Mainstream kennt ihn nicht.

Und für die Zuschauer:innen in der Türkei war Deutschland ja immer eine Blackbox. Die wissen nicht, was wir hier alles erlebt haben. Wir waren ja immer Gegenstand von Parodien und Spott mit unserem komischen Türkisch und unserem komischen Auftreten, wenn wir zurückgegangen sind. Unser Leben, was wir hier alles durchgemacht haben, aber auch, wie wir hier gefeiert haben, war für sie auch neu, und dementsprechend wurde der Film auch in der Türkei sehr gut aufgenommen.

Der Filmemacher Cem Kaya arbeitet sich seit fast 20 Jahren durch Archive türkisch-deutscher Geschichte. Dabei entstanden mehrere preisgekrönte Dokumentarfilme. Kaya arbeitete zudem an einem investigativen Film von Forensic Architecture mit, der den NSU-Mord an Halit Yozgat rekonstruiert.