Text & Interview: Hanna Bächer
In den letzten Jahren finden sich auf Line-Ups von Reihen und Festivals der experimentellen Musik zunehmend mehr Instrumentalist:innen. Künstler:innen und Komponist:innen, deren akademischer Background sowohl in der Klassik als auch im Jazz liegen kann und von denen manche mikrotonale Kompositionen schreiben oder interpretieren können, aber auch ihre eigenen (Software-)Instrumente bauen. Eine Generation, für die Neue Musik, Elektroakustik und Improvisation keine Gegensätze darstellen müssen, ebensowenig wie Jazz und elektronische Musik.
Die Cellistin und Komponistin Emily Wittbrodt, geboren 1994 in Bonn und mit aktuellem Wohnort Köln, gehört zu den spannendsten jungen Musiker:innen, die an diesen Schnittstellen Musik machen. Seit 2020 veröffentlicht sie solo und mit ihren verschiedenen Projekten – darunter Ludwig Wittbrodt, hilde, schoerken wittbrodt, vließ und ephemeral fragments.
Wir treffen uns an einem Dezembernachmittag auf einen Kaffee.
Hanna Bächer
So, läuft. Ist zwar nicht für’s Radio, aber mit einer vernünftigen Aufnahme funktioniert die Transkriptionssoftware einfach besser. Was mich quasi auch direkt zu meinem ersten Thema bringt, nämlich zu deiner Beschäftigung mit Text. Wie hat das angefangen?
Emily Wittbrodt
Generell ist es so, dass Text, Literatur oder Lyrik, einfach etwas ist, das mich sehr, vielleicht sogar am meisten interessiert, neben der Musik. Es hat sich für mich logisch angefühlt, die beiden Bereiche zu verbinden, weil Musik und Wort ja auch einfach wunderbare Schwestern sind. Und ich fand das gar nicht so einen großen Schritt, Text oder das gesprochene Wort in meine Musik einzubeziehen. Nur, dass ich einen riesigen Respekt davor hatte, selber Texte zu schreiben. Deswegen habe ich bei “Make You Stay”, das im September 23 rauskam, bis auf einen Text, den ich selber geschrieben habe, schon bestehende Texte von anderen Leuten genommen.
HB
Aber zum Teil auch Texte, die zu Musik geschrieben worden sind, oder? Du hast ja zum Beispiel einen Astrud Gilberto Text auf dem Album.
EW
Genau, Texte, die nicht losgelöst sind von Musik, zumindest nicht alle. Jetzt im Januar nehme ich mein zweites Album auf und das werden komplett Texte sein, die ich selber schreibe. Das ist für mich gerade ein cooler Schritt, das zu machen.
HB
Wie sieht diese Arbeit aus? Gehst du das ähnlich an, wie eine wie eine Komposition, wenn du Texte schreibst?
EW
Bei “Make You Stay” war es wirklich so, dass ich am Instrument Musik und Text gleichzeitig erschaffen habe, und zwar auch ziemlich gleichwertig. Also nicht, dass ich eine Melodie geschrieben und dazu irgendwelche Wörter gesetzt hätte, sondern ich habe versucht, einen Wortklang in einen Klang zu übertragen. Sodass das sehr ineinander greift. Jetzt in meinem aktuellen Projekt mache ich das noch extremer, dass ich nach dieser Überschneidung von Wortklang und Melodie suche.
HB
Das heißt, du sprichst die Sachen laut aus und schreibst sie dann auf?
EW
Absolut, oder ich frage mich, ob das gut singbar ist, ob die Vokale gut passen an der Stelle. Das hat jetzt bei meinem aktuellen Projekt schon was viel konstruierteres. Bei “Make You Stay” kam dieser eine Text von mir noch ein bisschen mehr aus dem Bauch heraus.
HB
Ich kann mir vorstellen, dass früher Texte auch eine Art Platzhalter dafür gewesen sind, Musik oder eine Melodie zu transkribieren, also bevor das Notenlesen weit verbreitet war. Weil Leute zum Beispiel mit bestimmten Vokalen Melodien verbinden, oder sie sich erschließen aus dem Text.
EW
Ich kenne das zum Beispiel aus einem kirchlichen Kontext, dass es da in alten Gesangsbüchern oft nur die Texte gibt und davon ausgegangen wurde, dass die Singenden die Melodien einfach kennen.
HB
Hast du eine Zeit im Leben gehabt, in der du in der Kirche Musik gemacht hast, als Kind oder Jugendliche?
EW
Meine ganzen ersten Konzerte, die ich gespielt habe, als Grundschulkind, die waren alle in der Kirche. Ich habe gegenüber von der Kirche gewohnt.
HB
Welche Kirche war das?
EW
Sankt Evergislus, in Bonn Bad Godesberg direkt am Rhein. Ich habe als Kind im Kirchenchor gesungen und hatte auch mal eine Orgelstunde. Und ich habe einfach so zum Spielen viel Zeit in der Kirche verbracht, obwohl das natürlich eigentlich nicht so gedacht ist. Aber die Kirche war halt da und ich bin da immer rein und fand die Atmosphäre toll und habe dann dort auch meine ersten Konzerte gespielt, mit Cello.
HB
Ich kenne in Bonn nur die Kreuzung Sankt Helena, in der ja viele Konzerte stattfinden.
EW
Das ist natürlich total cool da. Aber St. Evergislus ist eine ganz normale katholische Pfarrkirche, wo ich eben als Kind viel musiziert habe. Es kam dann aber irgendwann der Bruch, wo ich verstanden habe, dass das auch eine hinterfragungswürdige Institution ist. Und dann haben sich die Wege getrennt. Aber frühe Erinnerungen an Musik sind auf jeden Fall stark mit Kirche verbunden.
HB
Hat die Wahl deines Hauptinstruments auch etwas mit Kirche zu tun? Weil es ja auch Instrumente gibt, die klanglich nicht gut funktionieren in Kirchen, also in diesen abgefahrenen Klangräumen.
EW
Das glaube ich nicht, ehrlich gesagt. Meine beiden größeren Schwestern, die haben auch Streichinstrumente gespielt und ich hatte einfach Lust, da mitzumachen.
HB
Ich sehe es auch so, dass die Kirche, sagen wir mal, eine komplexe Institution ist. Konzerte in Kirchen, das schließt manche Menschen aus, finde ich, oder manche Haltungen. Und gleichzeitig sind es diese unfassbaren Bauwerke und die Kirche hat für die Musik in Europa eine riesige Rolle gespielt, deswegen bin ich da so ambivalent. Klanglich sind Kirchen ja etwas, das es sonst nicht gibt und das auch nicht gebaut wird.
EW
Und es sind Räume, die, in der Regel zumindest, den ganzen Tag offen stehen. Ich konnte da als Kind einfach reingehen, konnte mir die Sachen ganz in Ruhe angucken. Ein Ort, den man ja auch mit der Stimme… man muss gar kein Instrument dabei haben, um sofort zu merken, hier ist eine sehr besondere Akustik. Auf der eine Seite sind Kirchen also sehr zugänglich und auf einer anderen Ebene super unzugänglich.
HB
Du warst ja dann zum Studieren im Ruhrgebiet, in Essen. Und von der Szene, aus der ich dich ursprünglich kenne, sind viele Leute aus Mülheim an der Ruhr, Duisburg oder eben aus Essen. Wie war das, wann hast du etwas gefunden, das dich musikalisch interessiert?
EW
Das war tatsächlich im Ruhrgebiet, und zwar schon vor meiner Studienzeit. Ich bin, seit ich 14 war, fast jedes Wochenende nach Dortmund gefahren und habe da auch schon die ersten Leute aus dieser Szene, von der du sprichst, kennengelernt. Das coole am Ruhrgebiet ist ja, dass die sich alle auch über die Stadtgrenzen hinweg kennen. Ich habe Bonn schon als eine sehr konservative und sehr geschlossene Stadt wahrgenommen und fand es als Jugendliche super aufregend, im Ruhrgebiet zu sein, und zu merken, da hat jeder und jede eine Band, alle gehen auf Konzerte. Das war einfach eine ganz andere Umgebung. Deswegen war dann auch nach dem Abitur mein Wunsch, mich für einen Studienplatz an der Folkwang zu bewerben. Weil ich wirklich gezielt Lust hatte, im Ruhrgebiet zu sein. Das hat auch geklappt, allerdings war ich dann in Essen Werden, was jetzt auch nicht so repräsentativ ist für das Ruhrgebiet…
HB
Weil es so großbürgerlich ist?
EW
Genau, das ist so ein geschlossener Kosmos, ein sehr, reicher, kleiner Ort mit ganz vielen Jaguars, die man da rumfahren sieht [lacht]. Aber das ist halt eben auch das Ruhrgebiet, nicht nur kohlegeschwärzte Wände, sondern auch super divers. Und dann bin ich mit Leuten in Kontakt gekommen, die mit dem Macroscope in Mülheim an der Ruhr zu tun hatten und mit Ana Ott. Ich hatte auch meine erste Band mit 21, eine Drone Band, die hieß müde.
HB
Ein perfekter Name für eine Drone Band.
EW
Ja, das war mit Peter Rubel, Edis Ludwig, mit dem ich immer noch spiele, Johanna Rubel, Joel Roters und Frederik Lindemann. Die Band gab es dann irgendwann nicht mehr, weil Peter und Pedro berühmt geworden sind mit International Music und The Düsseldorf Düsterboys, dann war müde Geschichte. Also, no bad feelings, alles okay! [lacht]
So kam ich ziemlich früh schon in diesen ganzen Kreis rein und fand die Mischung sehr interessant aus Leuten, die einen akademischen Background haben und Leuten, die sich das alles selbst beigebracht haben.
HB
Wie Edis Ludwig.
EW
Zum Beispiel. Oder auch Seb von der Heide, der nicht Musik studiert hat [sondern Kunst]. Ich fand diese verschiedenen Perspektiven auf Musik super spannend. Vor allem, weil ich ja zu dem Zeitpunkt noch Klassik studiert habe und mich das da ziemlich gestört hat, wie eng der Blick auf Musik ist und auch wie arrogant und elitär, oft. Für mich war das sehr erfrischend, mit dem Macroscope einen Ort zu sehen, der das Musikerlebnis mit einem sozialen Gedanken und mit dem Gedanken eines Treffpunkts verbindet.
HB
Ist der akademische Weg, den du selber als Musikerin genommen hast, einer, der dich reizen würde?
EW
Lustigerweise werde ich im Januar das erste Mal in meinem Leben einen Workshop an einer Musikhochschule geben. Das war auch schon verbunden mit ganz spannenden Diskussionen. Das ist nämlich an der Musikhochschule in Würzburg in der Klassikabteilung. Ich finde es toll, da einen Improvisationsworkshop zu geben. Aber es gab direkt eine lustige Diskussion, weil normalerweise diese Workshops „Meisterkurs“ heißen. Und ich habe gesagt, das will ich nicht, das finde ich nicht passend. Wenn, wäre es ja ein Meisterinnenkurs. Und sowieso finde ich das einen komischen Begriff, es heißt besser Workshop. Die Musikhochschule meinte aber, dass dann öfters Studierende nicht kommen, weil “Workshop” nicht so wertig klingt. Das fand ich schon sehr interessant.
Aber um auf deine Frage zurückzukommen, grundsätzlich bin ich natürlich offen und würde mich auch freuen, Input zu geben an Musikhochschulen. Aber so richtig Teil von so einer Institution zu werden, mit allem, was dazugehört, das kann ich mir nicht vorstellen. Was jetzt auch gar nicht primär damit zusammenhängt, dass ich da irgendwie schlechte Erfahrungen gemacht habe, die habe ich auf jeden Fall auch gemacht, aber auch gute [lacht]. Aber ich habe das Gefühl, das ist nicht so mein Ort.
HB
Ja. Verstehe ich. Noch mal zurück zu dieser Zeit, in der du die Drone Band gehabt hast, zum Macroscope usw. Was war da für Musik um dich rum, die dich fasziniert hat? Kam das vor allem über soziale Kontakte, also dass man Sachen zusammen ausprobiert, oder hast du die Künstler:innen abstrakt über Tonträger kennengelernt?
EW
Das ging schon mehr über soziale Kontakte. Einfach auch, dass ich Freund:innen gesucht habe, dass ich Lust hatte auf coole Leute. Und darüber bin ich viel in Kontakt gekommen mit improvisierter, experimenteller und elektroakustischer Musik. Ich habe einfach im Macroscope sehr viel gehört, auch Leute, die auf der Durchreise waren und da gespielt haben. Dann habe ich diese ganze Welt rund um KRAAK kennengelernt, dem Label und Festival aus Belgien. Ziemlich zeitgleich bin ich außerdem bei The Dorf eingestiegen, diesem großen Improvisationskollektiv, oder Orchester. Was für mich damals total wichtig war, weil ich gemerkt habe, da sind Leute, für die ist improvisierte oder experimentelle Musik etwas, wofür man sich nicht rechtfertigen muss. In der Klassik gab es oft Kommentare von meinen Professor:innen, die meinten: auf keinen Fall improvisieren, das macht die Technik kaputt, das ist nicht gut, fokussier’ dich mal mehr. Und dann zu merken, das ist völliger Quatsch, das erweitert meine Technik oder auch meinen ganzen Horizont total. Und dass andere Menschen in dieser Musik komplett leben, dass das einfach deren Lebensinhalt ist, war für mich ganz wichtig zu erfahren.
HB
Auf der anderen Seite gibt es, glaube ich, Vorbehalte innerhalb der improvisierten Musikszene, von Leuten, die nicht aus dem akademischen Kontext kommen, gerade von älteren Jazzern vielleicht, die sagen, man kann Improvisation nicht studieren, weil das nicht beigebracht werden kann, sondern nur durch probieren erlernt. Und ich finde es immer total abgefahren, zu versuchen, als Laiin die Regeln in der Improvisation zu verstehen, also wenn ich Leuten beim Improvisieren zuschaue. Beispielsweise mit The Dorf, weil ich glaube, das ist die größte Formation, in der du spielst. Wie funktioniert da die Kommunikation, also in der Improvisation?
EW
The Dorf ist ein bisschen ein Sonderfall, da gibt es ja den Dirigenten, den Jan Klare, der auch Stücke oder Improvisationskonzepte schreibt, die wir spielen und die teilweise eine sehr große Offenheit haben, wo viel Platz ist für Improvisation. Aber es gibt auch immer die Möglichkeit, dass er etwas anzeigt, Leute rauswinkt, reinwinkt, abgesprochene Zeichen macht. Deswegen ist das ein bisschen ein Sonderfall. Aber insgesamt funktioniert die Kommunikation in Improvisationen über’s Zuhören und auch über gemeinsame Erfahrungen, die man gemacht hat, wenn man länger schon zusammen in Bands spielt. Dass man vielleicht auch weiß, die Person hat ein bestimmtes Vokabular, da kann ich mich jetzt entscheiden, das Vokabular zu unterstützen, oder reinzugrätschen, oder es herauszufordern. Aber es gibt auch viele Improvisationsbegegnungen, wo man sich noch nie vorher getroffen hat, also weder persönlich noch musikalisch. Und da funktioniert es über das wirklich komplette Zuhören, im Idealfall. Es gibt ja auch Improvisationen, wo das nicht passiert, wo man auch merkt, die Leute spielen aneinander vorbei. Allerdings kann das auch gewollt sein. Das ist eine komplexe Frage, glaube ich.
HB
Mir hat mal jemand gesagt, dass das einzig Schlimme ist, wenn die anderen nicht merken, wenn das Stück zu Ende sein sollte und jetzt eigentlich nichts mehr kommen muss.
EW
Das kenne ich ich, das ist wirklich quälend. [lacht]
HB
Findest du, dass NRW dich geprägt hat? Also glaubst du, du würdest woanders sehr anders klingen?
EW
Ich habe schon das Gefühl, dass NRW super prägend ist, wenn ich das vergleiche mit Berlin oder anderen großen Musikmetropolen, dass dieses kollektive und gemeinschaftliche in NRW stärker ist, also, dass es Kreise gibt, die sich gegenseitig über Jahre unterstützen. Ich habe nicht das Gefühl, dass es eine sehr hohe Fluktuation in Köln oder generell in NRW gibt, sondern dass viele Leute über eine lange Zeit hier bleiben und sich dadurch Dinge mit Zeit entwickeln können. Vor allem dieser Zeitfaktor, da merke ich oft, dass Musiker:innen aus anderen Szenen oder Städten es viel mehr gewohnt sind, Dinge mit einem viel größeren Zeitdruck oder ganz alleine zu schultern. Was natürlich auch etwas Positives haben kann, dass man vielleicht weniger gemütlich wird, oder so. Aber ich sehe schon sehr viele Vorteile in NRW, auch dass die Szene groß und übersichtlich gleichzeitig ist und dadurch viele schöne, lange bestehende Kontakte da sind.
HB
Deine Aufnahmen und Auftritte werden ja von sehr unterschiedlichen Outlets rezipiert, also sowohl von welchen, die in der Neuen Musik Ecke angesiedelt sind, oder in der experimentellen Musik, als auch im Jazz. Die Realität an der Kölner Musikhochschule ist ja auch, dass beides nebeneinander existiert: Auf der einen Seite hat dort früher Kagel unterrichtet und gleichzeitig gibt es diese sehr präsente Jazz Ecke.
EW
Das ist schon etwas, das man total in sich aufnimmt. Die Präsenz von dieser sehr akademischen Neuen Musik und dann aber auch der Input, der aus der Klangkunstrichtung kommt oder von der KHM, der Kunsthochschule für Medien in Köln. Und das ist eben genau das Besondere an Köln, dass sich diese Dinge überschneiden und treffen. In Berlin aber ja auch, z.B. bei [der Cellistin] Judith Hamann.
HB
Zu der Verwendung von Stimme in deiner Musik bist du, wenn ich das richtig interpretiere, ja eher aus dem Sprechen, den Wörtern gekommen, also dem, was uns allen am nächsten liegt. Und dann arbeitest du auf der anderen Seite mit Elisa Kühnl, die sich von Regeln zur Benutzung ihrer Stimme sozusagen komplett befreit hat.
EW
Elisa ist schon ganz lange eine Wegbegleiterin von mir und meiner Musik. Ich habe sie vor ungefähr zehn Jahren kennengelernt und fand immer ganz toll, wie sie diesen ganz freien Umgang mit Stimme gefunden hat. Aber gleichzeitig auch diese Einbindung von Gruppen und Gruppendynamiken in ihrem Chor Glossa.
Im Sommer hatten wir einen Auftritt als Duo im Museum Haus Lange / Haus Esters in Krefeld, wo wir die Räume bespielen konnten. Elisa hat ein ganz tolles Verständnis, wie man Räume nutzt und sich in Räumen bewegt, wie man ein Publikum mit einbindet, wie man die Livesituation ganz anders denkt und die Bühnensituation aufbricht. Das fand ich super inspirierend und merke, dass sie, anders als ich, ihre Musik nicht so sehr aus dieser Bühnenerfahrung speist. Dass sie keine Bühnenkünstlerin ist, die fest auf der Bühne an ihrem einen Platz steht, dort ihre Sachen vorträgt und danach wieder die Bühne verlässt. Sondern dass sie das viel flexibler und offener und Grenzen überwindender denkt. Und das finde ich total spannend bei ihr. Auch einfach dieses Performative, das so mitgedacht wird.
HB
Ich finde, dieses extrem körperliche, was sie macht, also über die Stimme hinaus, wie sich ihr Körper zum Raum verhält, das ist fast dem Tanz näher, als der Musik. Fast so, als würde sie Räume channeln durch ihren Gesang.
In dem Moment, wo du als Cellistin auftrittst, sitzt du ja. Im Vergleich zu Leuten, die stehen, hat das vielleicht automatisch etwas Verkopfteres, also auch in der Wahrnehmung von außen?
EW
Ich musste da ganz viel drüber nachdenken, als ich Judith Hamann gesehen habe. Ich habe sie jetzt zum zweiten Mal gehört und sie spielt ja im Stehen. Interessanterweise hat sie aber bei der Improvisation [mit Sholto Dobie] gesessen und da habe ich noch mal ganz deutlich diesen Unterschied wahrgenommen. Bei ihr ist ja auch so interessant, dass sie die Stimme ganz natürlich mit einbindet und dass es da keine Grenze gibt zwischen ihrem Körper, dem Cello und der Stimme. Und dass das Cello ganz anders schwingt, weil es so freier im Raum steht.
HB
Und auch ein anderer Teil vom Cello vor dem Brustkorb steht und dadurch mit der Stimme anders resoniert?
EW
Genau. Und die Krafteinwirkung auf das Instrument ist anders, wenn man steht, als wenn man sitzt.
HB
Wir müssen beide gleich los auf verschiedene Konzerte. Ich habe ganz vergessen zu fragen, welche Rolle du bei der Kölner Reihe Bruitkasten hast und in dieser Szene um das Kölner Impakt Kollektiv.
EW
Also ich bin seit anderthalb Jahren oder so dabei. Im Moment ist meine Aufgabe vor allem, dass ich beim Bruitkasten helfe, also dass ich einfach die Betreuung der Konzerte mache. Wir machen das zweimal im Monat, meistens drei Sets. Heute Abend ist auch eine ganz große Band da, mit Harfe und Vibrafon und ich bin total gespannt. Ich bin also vor allem in der Umsetzung vom Bruitkasten tätig und habe mit Jonas Engel, der die Bruitkasten-Reihe quasi erfunden hat und auch Teil von Impakt ist, jetzt schon zum zweiten Mal ein Sommerfestival, eine Spezialausgabe von Bruitkasten gemacht. Sonst habe ich aber keine federführende Aufgabe.
HB
Das heißt, wer da spielt, ergibt sich aus euren Kreisen oder Leute schlagen Sachen vor?
EW
Nee, man kann sich da richtig für bewerben. Es ist total krass, wie viele Anfragen wir kriegen. Auch aus ganz Europa und von Leuten, die auf Tour sind. Dafür, dass das so ein kleiner Gig ist, haben wirklich sehr, sehr viele Leute Interesse. Die Stimmung ist immer total cool und es ist eine gute Mischung aus lokalen und internationalen Leuten. Diese lokale Verankerung soll auf jeden Fall auch immer irgendwie im Vordergrund stehen.
HB
Die ergibt sich ja oft auch einfach daraus, dass man nicht unbedingt immer Geld für Reisekosten hat, wenn überhaupt.
EW
Sowas gibt es bei uns sowieso nicht. Es gibt den Hut und im Moment pro Person 40 €, weil wir den Applaus-Preis bekommen haben, das verteilen wir an alle Musikerinnen. Aber: 40 €. Das ist nichts. Wir können auch keine Übernachtung stellen. Es ist wirklich komplett DIY.
HB
Das ist Wahnsinn, dass ihr, also, dass alle Beteiligten aus diesem absoluten Minimum so viel generieren. Das sollte so nicht sein müssen.
Danke, Emily, für das Gespräch.
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Emily Wittbrodt wurde 1994 in Bonn geboren und lebt zur Zeit in Köln. Sie studierte klassisches Cello in Düsseldorf, Essen, Helsinki und Florenz, Barockcello in Essen und Jazzcello in Köln. Der Schwerpunkt von Emilys künstlerischem Schaffen liegt auf der Improvisation und interdisziplinären Arbeit. Zu zahlreichen Tanz- und Theaterproduktionen schuf Emily die Musik.
Emily ist in verschiedenen Bands, Ensembles und Kollektiven künstlerisch tätig- so unter anderem bei The Dorf und Umland, dem SONO-Kollektiv und dem Impakt Kollektiv. Mit ihren Bandprojekten Ephemeral Fragments, Ludwig Wittbrodt, hilde, schoerken wittbrodt und vließ veröffentlicht sie seit 2020 bei Ana Ott, Umland records und Impakt records.
2023 erschien ihr erstes vollständig aus Eigenkompositionen bestehendes Projekt „make you stay“. Emilys Musik verortet sich in der freien Improvisation und der Elektroakustik, findet ihre Form aber auch in experimentellen Songs und Rezitativen.