Norbert Stein
Hat die Neue Musik die Palette des musikalischen Vokabulars erweitert?
Mark-Andreas Schlingensiepen
Ganz sicher! Nach dem Krieg hat sie – und ist insofern mitverantwortlich für das Schubladendenken – die romantische Tradition im eigenen Bereich ausgeschlossen. Insofern war das schon ein „Sich absetzen“ und kein Erweitern im Sinne von “Ich mache das Alte auch und das Neue kommt hinzu“, was aber eigentlich musikgeschichtlich immer der Sinn ist.
Für die Menschen, für die die Musik bei Bartok oder vielleicht schon bei Brahms aufhört, ist es ja – so lebhaft und lebendig diese Musik auch heute gespielt werden muss – eine „tote“ Materie. Aus der schöpferischen Sicht ist es dann vorbei, machen wir dann musealen Betrieb.
Ich habe immer gesagt, das ist ein ganz langer Schal und wir stricken weiter. Die meisten Leute sehen aber nur das, was sie um den Hals haben. Und dann? Dann ist ihnen warm genug damit. Wir sorgen für die Fortsetzung dessen, was es schon gibt. Wir machen nicht etwas, was ohne Voraussetzung irgendwann angefangen hat, sondern wir haben immer nur weitergemacht. Wir machen das, was in 20 Jahren auch älter ist.
In der Neuen Musik von heute kommt Unterschiedlichstes vor. Zunehmend auch das, was es früher auch schon ähnlich gab, weil inzwischen das Bewusstsein dafür da ist, dass es zusammengehört, dass es, sozusagen, ein Fluss ist, in dem wir baden.

NS
Was kann Musik dem Menschen geben? Was bewegt ihr eigenes kompositorisches Schaffen?
MAS
Ich habe jüngst ein Stück uraufgeführt, was ich geschrieben habe, über Charles Darwin, mit Texten von Charles Darwin aus seiner persönlichen, nur für die Familie gedachten Biographie. Und dabei ist für mich die Essenz gewesen, dass er sinngemäß gesagt hat: Ich habe mein ganzes Leben der Wissenschaft gewidmet; damit bin ich auch völlig einverstanden. Aber ich habe den Kontakt zur Kultur, mit der ich in meiner Jugend viel anfangen konnte, verloren, weil ich mich damit gar nicht mehr befasst habe. Und der Verlust dieses Bezugs zur Kultur ist ein Verlust an Glück. Darwin hat beschrieben, dass er als Student in Cambridge extra spazieren gegangen ist, um die Probe vom Cambridge King’s College Choir zu hören, weil es ihm da manchmal den Rücken kalt runterlief vor Berührtheit.
Später hat er nochmal versucht, Shakespeare zu lesen: es hat ihn nur noch gelangweilt. Und damit meint er nicht, dass die Literatur schlecht sei – als Kind oder als Jugendlicher und junger Mann hat er die noch aufgesogen – sondern: er hat die Fähigkeit verloren, das in sich aufzunehmen, sich davon berühren zu lassen.
Das ist ein Dokument dafür, dass die Kultur, das kulturelle Leben, selbst für einen streng “wissenschaftlich ausgerichteten Menschen“ wie Darwin, an sich eine Bedeutung hat. Selbst Darwin sagte am Lebensende: Wenn ich noch einmal leben würde, würde ich das anders machen. Dann würde ich den Bezug zur Kultur, also zum Kulturellen, nicht abreißen lassen.
Das ist, wie ich finde, ein zentraler Satz darüber, was Musik, Kunst und Literatur letztendlich bedeuten und warum Musik oder das kulturelle Schaffen nicht irgendwann ein Ende haben darf. Ich kannte Darwins Text und wusste, dass ich irgendwas daraus machen wollte.
NS
Wie erleben Sie die Resonanz des Publikums auf Neue Musik?
MAS
Immer wieder kommt es vor, dass, wenn wir in der Düsseldorfer Tonhalle spielen, ein Kontingent der Karten von der sogenannten Volksbühne oder Theatergemeinschaft gekauft worden ist. Sie haben eine Art Abo und schicken ihre Abonnenten mal in die Komödie und mal ins Schauspielhaus oder ins Konzert. Diese Institution kauft gelegentlich Karten auch für unsere Konzerte.
Wir haben es über die Jahre gar nicht mehr erlebt, dass die Leute, die über ein solches Abo in unsere Konzerte kommen, während des Konzertes den Saal verlassen hätten. Wir erleben häufiger, dass sie sich nach anfänglicher Verwunderung das ganze Konzert anhören.
Ich habe es schon erlebt, dass Leute gekommen sind und hinterher zu mir gesagt haben: Das war total interessant: Ich komme wieder.
Ich muss mich in der Neuen Musik quasi in einer Landschaft bewegen, die ich noch gar nicht kenne und muss interessiert sein daran, was um die nächste Ecke kommt. Was finde ich da? Und “neu“ ist auch nicht immer “gegen“. Nein, absolut nicht. Eigentlich ist es schlicht das Weiterstricken am Schal der Musikgeschichte.

NS
Besteht das notabu.ensemble aus einer festen Besetzung?
MAS
Wir haben so eine ungeschriebene Satzung, dass jemand zum Mitglied des Ensembles ernannt wird. Wer Mitglied des Ensembles ist, hat das Anrecht zu spielen, wenn sein Instrument besetzt ist. Ich frage nur jemand anderen, wenn die Stammspieler nicht können.
Als Beispiel: Wenn ich eine Geige zu besetzen habe, dann muss ich nach eigener Verpflichtung die zwei Geigen, die wir fix haben, fragen, ob sie spielen können. Und im Zweifelsfall ist es sogar so: Wenn beide zufällig nicht können oder wir mehr als zwei brauchen, dann sprechen wir gemeinsam darüber, wer dann spielt. Wir haben dafür auch einen Pool an Musikern, die man immer mal wieder fragt. Die sind nicht Mitglieder, sondern assoziierte Musiker.
Ich kann mich wirklich auf das Ensemble sehr verlassen, so wie die sich auf mich auch verlassen können. Das hat uns letztendlich überhaupt ermöglicht, 40 Jahre durchzuhalten.

This article is brought to you as part of the EM GUIDE project – an initiative dedicated to empowering independent music magazines and strengthen the underground music scene in Europe. Read more about the project at emgui.de
Funded by the European Union. Views and opinions expressed are however those of the author(s) only and do not necessarily reflect those of the European Union or the European Education and Culture Executive Agency (EACEA). Neither the European Union nor EACEA can be held responsible for them.