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Zeitung für neue und experimentelle Musik

gespräch mit muhlheimer zòngtage: raus aus der komfortzone “krach”

November 2024

Zum zweiten Mal finden in diesem November die Muhlheimer Zòngtage statt. Zwei Tage lang gibt es wieder Konzerte im Makroscope, zu hören ist Geräuschiges, Folkiges, Perkussives, Droniges und Tanzbares. Kurator Felix Möser erzählt NOIES, was ein Zòng ist, was die politische Mitte und der künstlerische Mainstream gemeinsam haben, und warum Krach und Pop zusammengehören.
Red Brut bei den Muhlheimer Zòngtagen 2022. © Moritz Ridder

Interview: Verena Hahn


Verena Hahn
Am 22. November starten die Muhlheimer Zòngtage. Wo liegt eigentlich Muhlheim, und was ist ein Zòng?

Felix Möser
Das chinesische Wort Zòng bedeutet, zumindest laut einem kostenlosen Online-Wörterbuch, “einer Sache freien Lauf lassen“ oder “einen festgenommenen Bösewicht wieder auf freien Fuß setzen“. So etwas wird im allzu beschaulichen Mülheim mithin nicht gerne gesehen. Mindestens ebenso verpönt ist es bei jedem echten Mölmschen*, wenn mal wieder ein Auswärtiger dem Namen der Stadt ein „H“ zu viel verpasst. Wir machen beides und weisen damit sowohl auf unsere Wertschätzung für das Un- oder noch besser das Antiperfekte als auch auf eine ausgeprägte Neigung zum Widerspenstigen hin. Und natürlich ist der Titel eine kleine Verbeugung vor den Internationalen Essener Songtagen von 1968.


VH
Worauf freust du dich dieses Jahr am meisten?

FM
Auf die Momente während der Konzerte, wenn man plötzlich ganz gebannt ist und gemeinsam mit den anderen Gästen schöne, überraschende und lustige Momente erlebt. Die Zòngtage leben immer davon, sehr unterschiedliche musikalische Ansätze zu zeigen, überwiegend aus dem DIY-Underground und meist von Musiker:innen, die viel herumprobieren und sich dabei nicht allzu ernst nehmen. Zum Glück haben wir ein Publikum, das zwar ebenfalls eine lockere Herangehensweise hat, dabei aber total aufmerksam und begeisterungsfähig ist. Deshalb kommt es manchmal zu diesen ganz besonderen Momenten, in denen Band und Zuschauer:innen das Gefühl teilen, einen besonderen Augenblick zu erleben – herausgebeamt aus dem Alltag. Solche Momente gab es auch in diesem Jahr schon (die Zóngtage starten ja nicht erst jetzt mit dem zweitägigen Höhepunkt, sondern finden auch darum herum als Konzertreihe statt). Zum Beispiel beim Auftakt mit red on+subrihanna, deren audiovisuelle Ambientperformance für verträumte Blicke gesorgt hat, oder auch bei den Auftritten der experimentellen Drone-Folk Musiker:innen Ignatz und Lazzaro, als wir alle in einen befriedigend-dunklen Klangstrudel eingesogen wurden. Dabei profitieren wir natürlich auch von der gemütlichen Atmosphäre im Makroscope und davon, dass es nie sehr voll ist. Du kannst dich direkt bei der Band auf ein Kissen setzen oder auf ein Sofa in einer Ecke, hinterher mit den Musiker:innen an der Bar ein Getränk trinken – es ist so, als hättest du in deinem Wohnzimmer Musik, von der du gar nicht wusstest, dass sie existiert.

VH
Du hast das Programm des Festivals kuratiert. Was hat dich an den Bands und Musiker:innen dieses Programms interessiert?

FM
In den letzten 11 Jahren lag ein Schwerpunkt der Konzertreihe im Makroscope auf frei improvisierter Musik vieler Spielarten (insbesondere Noise, Drone und Ambient). Mit der Einführung des neuen Begriffs der Muhlheimer Zòngtage wollte ich uns etwas herausbugsieren aus der Komfortzone des Krachs, so wie die legendären Essener Songtage Krach in an Folk gewohnte Ohren gebracht haben. Mehr Song wagen heißt, für die Zóngtage also, Ansätze experimenteller Folk- und Popmusik stärker einzubeziehen. In diesem Zusammenhang haben wir im Oktober mit Brorlab zum ersten Mal eine Punkband dabei gehabt. Héloïse und Chicaloyoh sind weitere Beispiele aus dem Programm, aber auch Pierre Bastien, dessen Konzert im Dezember die diesjährigen Zòngtage beschließen wird. Pierre baut seit Jahrzehnten ein Roboterochester aus mechanischen Instrumenten – verfolgt also eine experimentelle Herangehensweise an der Schnittstelle von Komposition und Bildhauerei. Trotzdem erinnern manche seiner Songs an Jazz oder Indierock wie den von The Notwist.


Beim Booking war auch die Geschlechterparität wichtig. Jahrelang haben wir darauf zu wenig geachtet und dann einen gehörigen Schreck bekommen, als wir retrospektiv nachgezählt haben. Bei den ersten zweitägigen Zóngtagen hatten wir deshalb einfach mal so gut wie keine Männer im Programm, in diesem Jahr ist es bei Reihe und Festival ausgeglichen.

Ein anderes Thema, das mich in diesem Jahr mehr beschäftigen musste, als bei vorherigen Ausgaben, ist der grassierende israelbezogene Antisemitismus, auch und gerade im Kunst- und Kulturbereich. Wir erleben, dass es international – und immer mehr auch in Deutschland – unter Künstler:innen Konjunktur hat, Israel zu dämonisieren und infolgedessen antisemitische Boykottkampagnen zu unterstützen. Die Ideologie wird von vielen sehr bewusst mit der eigenen künstlerischen Arbeit verknüpft und darf in diesen Fällen aus kuratorischer Sicht nicht ignoriert werden. Im Makroscope teilen wir den Konsens, Künstler:innen keine Bühne zu geben, die offen derlei Positionen propagieren. In den Verträgen für die Zóngtage steht das – ebenso wie ein Bekenntnis gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Sexismus und sonstige menschenfeindliche Inhalte. Leider haben sich deshalb mehrere Bands geweigert, bei uns zu spielen. Es ist ein wichtiger Grundgedanke der Zòngtage, möglichst viele internationale Leute herzuholen, die man sonst kaum in der Gegend erleben könnte. Angesichts dieser Zustände eine gewisse Herausforderung, vor der zur Zeit viele Kolleg:innen stehen.

Valeria Oggioni bei den Muhlheimer Zòngtagen 2022. © Moritz Ridder

VH
Dieses Jahr ist die 2. Ausgabe des Festivals. Nach der ersten Ausgabe hast du geschrieben, dass die folgende Ausgabe weniger wie eine klassische Konzertsituation sein soll, und mehr wie ein gemeinsames Wochenende von Musiker:innen und Publikum. Ist dieses Jahr etwas anders als beim ersten Mal?

FM
Mein Wunsch war, Musiker:innen und Zuschauer:innen für ein ganzes Wochenende ins Makroscope einzuladen. Abgesehen von kleinen Konzert-Spotlights hätten wir zusammen gejammt, diskutiert, gegessen und passende Dokus geschaut, je nach Laune vielleicht auch Musik in die Innenstadt getragen. Dieses Konzept kam aber leider bei den angefragten Förderstellen – noch – nicht so gut an. Vielleicht klappt es im nächsten oder übernächsten Jahr.


VH
Wenn du dich im Ruhrgebiet umschaust: wie nimmst du wahr, was dort gerade im Bereich experimenteller Musik passiert? Und wo verortet sich das Festival lokal?

FM
Es geht leicht über die Lippen, das Ruhrgebiet – zumindest im Bereich jenseits des Mainstreams – als absolutes Ödland zu bezeichnen. Aber natürlich gibt es immer Leute, die dagegen halten – in der Neue Musik Zentrale in Essen, im Duisburger Lokal Harmonie und beim Platzhirsch-Festival, im GeOrgel in Gelsenkirchen und beim Moers Festival. Da freuen wir uns natürlich immer über jeden Austausch. Mit unserer speziellen Herangehensweise, bei der akademische Positionen und Free Jazz eher am Rande vorkommen, schauen wir traditionell besonders auf die DIY-Szene im nahen Belgien, zum Beispiel auf das Kraak Festival, das Programm der Ateliers Claus und die Reihen und Festivals des Meakusma-Labels.

Muhlheimer Zòngtage 2022. © Moritz Ridder

VH
Das Makroscope ist nicht nur ein Veranstaltungsort, sondern als soziokulturelles Zentrum auch ein Communityraum. Wen trifft man bei den Muhlheimer Zòngtagen außer den Musiker:innen noch so im Makro?

FM
Das Makroscope hat ja ein sehr diverses Programm; klassische soziokulturelle Formate treffen auf politische Reihen und Museumsarbeit. Leider scheint das bei manchen einen gewissen elitären Duft zu versprühen – aus meiner Sicht aber zu Unrecht. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich im Makro allgemein, und bei den Zóngtagen im Besonderen, alle willkommen fühlen können, die von der Straße hineinstolpern – unabhängig von Background und Vorwissen. Viele haben das getan und sind wiedergekommen, sie bilden das seit vielen Jahren gewachsene (und doch kleinbleibende) Stammpublikum aus Jazz- und Krautrockfans, Neue Musik-Kenner:innen, Liebhaber:innen abseitigen Pops, Punks der Jens Rachut-Sorte und nicht Wenige, die außerhalb des Makros keine experimentelle Musik hören, aber bei uns solche Erlebnisse lieben gelernt haben, wie ich sie eingangs beschrieben habe.


VH
Wenn man sich den Auftritt des Festivals anschaut, ist vieles handgemacht und analog, und verweigert sich den Erfolgsrezepten, die in den sozialen Medien oder den Suchmaschinen Reichweite versprechen. Wie viel DIY und wie viel Punk kann man sich heute noch leisten?

FM
Wenigstens so viel wie die Zóngtage, wie die bisherigen Konzerte und hoffentlich auch das kommende Wochenende belegen. Ich rate dennoch zu mehr.

Osilasi bei den Muhlheimer Zòngtagen 2022. © Moritz Ridder

VH
Du benutzt manchmal die Genrebeschreibung “abseitige Musik“, in eine ähnliche Richtung gehen Begriffe wie “Nische“ oder “Blase“. “Abseitig” ist eine fast geografische Beschreibung, die so etwas wie ein Zentrum ausmacht, um das herum sich innere und äußere Ringe mit nach außen hin sinkenden Marktwerten ansiedeln. In Bezug auf das Verhältnis von Majorunternehmen und DIY trifft diese Beschreibung wohl heute mehr zu als je zuvor. Trotzdem schwingt für mich in diesen Beschreibungen manchmal auch ein Hauch von Irrelevanz mit. Kannst du beschreiben, was für dich das “Abseitige“ ist und warum du diesen Begriff benutzt?

FM
Das englische Wort dazu ist Leftfield, also ebenfalls eine geografische Verortung. Man könnte auch eine begriffliche Verwandtschaft zur neuerdings so penetrant beschworenen politischen Mitte sehen. Weder in der künstlerischen Mitte noch im politischen Mainstream passiert irgendetwas Interessantes, dafür viel Gefährliches. Was nicht unbedingt heißt, dass im musikalischen Abseits alles – oder überhaupt etwas – relevant und progressiv sein muss; aber es ist der Ort, an dem wir uns gerne aufhalten und wo wir auch die Fallstricke der oft überhöhten DIY-Kultur (Stichwort Selbstausbeutung, Stichwort verkürzte Kapitalismuskritik) kritisch reflektieren sollten. Eine andere Genrebezeichnung ist die Jetztmusik, die also auf eine zeitliche statt der geographischen Verortung setzt – damit aber ebenfalls auf intendiert schlechte Voraussetzungen für industrielle Verwertung (hier aufgrund mangelnder Reproduzierbarkeit) hinweist. Das gefällt mir, und insofern würde ich mich auch gegen den Begriff des Irrelevanten nicht wehren.


VH
Das Festival wird vom Musikfonds gefördert. Wie viel Wertschätzung gibt es auf Seiten von Förderern und Politik für experimentelle oder abseitige Musik und Kunst?

FM
Bei Förderstellen und Jurys nehme ich große Bereitschaft wahr, experimentelle Kunst und Musik zu fördern. Allerdings sind die allgemeinen Förderquoten schon heute sehr gering, umso bedrohlicher sind die jetzt in Rede stehenden Kürzungen für die Bundeskulturfonds um bis zu 50 Prozent. Das werden wir in der Arbeit aller freien Szenen schmerzhaft spüren. Offenbar will auch eine Kulturstaatsministerin, die mal irgendwas mit Ton Steine Scherben gemacht hat, mehr Bayreuth und weniger Zòng.

VH
Wie geht es nach dieser Ausgabe mit dem Festival weiter?

FM
Sehr gerne wieder im Format der Konzertreihe mit einem zweitägigen Gathering als Höhepunkt, damit es nicht ein kurzes Ereignis ist, sondern eine ausführliche gemeinsame Beschäftigung mit mehreren thematisch stimmigen Abenden, aus denen sich ein schöner Bogen ergibt. Prima fände ich auch eine begleitende Veröffentlichung mit ausgewählten Mitschnitten, die es glücklicherweise reichlich gibt.

Muhlheimer Zòngtage 2022. © Moritz Ridder

Die Muhlheimer Zòngtage finden vom 22.-23. November im Makroscope in Mülheim an der Ruhr statt. Auf dem Programm stehen Chicaloyoh, Nina Harker, Razen, Corso non Securo, Sarah Terral, Transport, Héloïse und DJ Niklas Wandt.