Der Text ist ein Zusammenschnitt aus einem Gespräch zwischen Nicolao Valiensi und Norbert Stein.
Die italienische Banda
Ich bin in einem kleinen Dorf in Italien in der nördlichen Toskana geboren, in dem Blasmusik eine große Rolle gespielt hat. Eine Banda ist nichts anderes als ein Blasorchester und hat sich in Italien ein bisschen anders entwickelt als in Nordeuropa. Die Banda hat eine Funktion in der Dorfgemeinschaft: bei religiösen Prozessionen, bei Beerdigungen, Konzerten und Tanzmusik. Sie ist Trägerin von Kultur. Die bekanntesten Arien von Verdi, die Opern, sind von der Banda populär gemacht worden und durch diese Rolle ist die klassische Musik bei der armen Bevölkerung wichtig geworden und wurde ein Teil der kulturellen Identität. Die Banda ist auch ein Ort der sozialen Geborgenheit. Alle Schichten der Gesellschaft sind da vorhanden, das heißt: man ist zusammen und erlernt von klein auf in diesem Verein, Musik zu machen. Diese Musik hat für viele Leute eine große Rolle gespielt. Es war immer ein hoher Moment des Lebens. Die Musiker, die ich dort kennengelernt habe, waren nicht studierte Musiker, aber voller Leidenschaft und Ernsthaftigkeit, Musik zu machen.
Die klassische Musik
Die Entdeckung meines Daimons¹ erklärt mir meinen Drang, tiefer in die Musik hineingehen zu wollen.
Schon früh habe ich an der Musikhochschule in Lucca Opern erlebt. Wir haben “Butterfly” von Giacomo Puccini in der Nähe von Florenz aufgeführt und als Teil des orchestralen Klangkörpers habe ich gedacht: Das ist etwas Unbeschreibliches, eine unübertroffene Sensation als Mensch. Das war so schön, dass ich dachte, das muss das Paradies sein. Diese ganze Geschichte auf der Bühne war für mich manchmal fast ein Schock. Ein Schönheitsschock. Ein Stendal Syndrom.
Dann habe ich Beethoven entdeckt. Die neunte Sinfonie von Beethoven habe ich immer wieder gehört. Ich war süchtig nach dieser Musik. Beethoven war mein Freund, das war meine Zuflucht. Diese Stücke haben mich in eine euphorische Stimmung versetzt: unglaubliche Freude. Und ich war Teil davon.
Die Neue Musik
Mein Professor für Musikgeschichte kam einmal mit einem Stück von Luigi Nono. Ich war erstmal sehr perplex, weil es tatsächlich meine bekannte Welt in Frage stellte. Es hat mich neugierig gemacht: Was ist das? Was passiert da? Was für eine Architektur der Klänge ist das?
Der zweite Moment war eine Vorlesung von Sylvano Bussotti und eine Arbeit von ihm: präpariertes Klavier und improvisierte Performance eines Malers, mit Projektionen auf eine Leinwand. Es hat mich fasziniert. Es war eine andere Sprache, die ich nicht kannte.
Die neue Musik war für mich mehr “Jetzt“. Wenn meine Seele in dem “Jetzt“ getroffen wird, dann bringt mich das tatsächlich in eine ganz andere Dimension, eine Dimension des Daseins, in der das “Jetzt“, das Physische, das Blut, durch die Adern fließt.
Die beiden Episoden “Luigi Nono und Sylvano Bussotti“ – und auch Aufnahmen von Edgar Varese – haben mich angeregt, Musik aus der Überzeugung heraus zu komponieren, dass wir nicht in einer Welt der Schubladen leben.
Jazz und Improvisierte Musik
Jazz habe ich anfangs als populäre Neue Musik wahrgenommen, so, wie die Banda als Popularisierung von symphonischer Musik. Mich hat der Jazz eigentlich nur als Mittel interessiert, schnell zu dieser Popularisierung der Neuen Musik kommen zu können. Für mich, der ich als Europäer auf eine grandiose Musikgeschichte zurückblicken kann, ist Jazz – mehr als alle andere Musik, die keine Alltagsmusik war – Puccini, Verdi und Beethoven – eine erlernte Sprache.
Jazz hat mich berührt: Sein Potenzial an Wärme und die ihm innewohnende Widerspiegelung eines Lebensprinzips: Improvisation. Wir alle improvisieren. Man hat mehrere Möglichkeiten und man wählt eine davon. Wenn diese Möglichkeit, diese Wahl, falsch war, kann man vielleicht sagen: Ich komme wieder zurück; oder vielleicht ergibt sich was anderes aus dieser Entscheidung.
Ich mag Struktur. Ich finde es interessant, mich innerhalb von Stücken zu bewegen, denen eine musikalische Organisation oder Material zu Grunde liegt und in denen dann Improvisation eine Rolle spielt. Das empfinde ich als eine Herausforderung. Improvisation ist keine Willkür, sondern beruht auf Wissen, Lebenserfahrung, Musik- und Kunsterfahrung. Improvisation braucht Kenntnisse, ist Handwerk, ist nicht Irgendwas, hat Regeln.
Die Banda Metafisica
Es ist diese Idee – die ich heute noch habe – der Popularisierung der Neuen Musik, ohne Schubladen, sondern als Kontinuum: Die dörfliche, begrenzte Welt und darüber hinaus, die Welt der neuen Klänge, das Dasein, das Zeitgenössische, der Moment des “Was passiert jetzt?“
Was benutze ich dazu? Die Improvisation oder die Aleatorik in Stücken, die ich komponiert habe; das sind die Elemente!
Die Leute hören – ich gehe mal davon aus – wunderschöne Melodien und werden dann in eine Klangwelt versetzt, die das Jetzt darstellt. Klang- und Geräuschwelten, die alle möglichen Assoziationen freigeben können. Ich habe auch schon wahnsinnige Träume gehabt – und das noch immer –, eine Tanzmusik zu machen, die all diese Elemente hineinbringt. Die Idee, diese neue Musik auch in die Piazza zu bringen, oder Konzerte an Orten, wo das Publikum der Neuen Musik normalerweise nicht hingeht: Die Banda als Botschafterin der Neuen Musik.
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Nicolao Valiensi ist Euphoniumspieler, Posaunist, Tubaspieler und Komponist. Er unterrichtet an der Clara Schumann Musikschule Düsseldorf und ist Posaunist bei notabu, ensemble neue musik. Im Jahr 2002 schuf er mit der deutsch-italienischen Banda Metafisica den Rahmen für seine musikalischen Ideen.