Interview: Verena Hahn
Verena Hahn
Wie ist die Idee entstanden, einen Stimmbruchchor zu gründen?
Eva-Maria Baumeister
Bei uns entsteht eine Sache aus dem anderen. Bei unserem ersten Projekt, “Verschwindende Orte”, ging es um die Umsiedlungen in Garzweiler. Biografische Brüche waren da natürlich schon Thema. Wir haben uns aber erstmal mit verschiedenen Protestformaten beschäftigt. Daraus hat sich dann die Frage entwickelt, wann eigentlich etwas so nachhallt, dass ich aufstehe und mich wirklich für etwas einsetze. So kamen wir zum Thema Resonanz. Also, wann steckt mich eigentlich etwas an? Resonanz hat ja mit dem Stiften von Verbindungen zu tun. Darüber stellte sich dann die Frage, warum das so schwierig ist und wo es eigentlich Abbruchkanten und Bruchstellen gibt.
Lena Thelen
Wir haben dann von der Kunststiftung NRW ein achtzehnmonatiges Stipendium für künstlerische Forschung bekommen, uns mit verschiedenen Spezialisten, also Wissenschaftlern und anderen Künstlern, getroffen und rund um das Thema Bruch geforscht. Das hat uns an sehr schöne Orte geführt. Wir waren in Freiburg beim Fraunhofer-Institut für Werkstoffmechanik und in Frankfurt (Oder) an der Universität, wo wir zu Metaphern und Gestik geforscht haben. Wir haben einen Schreibworkshop zum Thema biografische Brüche gemacht und einen Kint Sugi Workshop belegt. Das ist diese japanische Kunstfertigkeit, bei der man zerbrochenes Porzellan wieder zusammenfügt. Wir haben uns mit dem Brechen, aber auch mit der Heilung beschäftigt.
VH
Die Frage, wann Protest entsteht, finde ich auch sehr spannend. In Chile waren der Auslöser ja die Preisanstiege im öffentlichen Nahverkehr, die fast zu einer neuen Verfassung geführt hätten. Was habt ihr denn herausgefunden, was verursacht Brüche?
EMB
Wir haben herausgefunden, dass diese Situationen oft gar nicht als Bruch empfunden werden. Die dauern oft nur einen kurzen Moment, so etwas wie der Moment, in dem einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Und dann erzählt man das ja schon wieder weiter oder versucht, es irgendwie zu integrieren. Das hat aber auch damit zu tun, wie resilient ich bin. Bin ich dazu in der Lage, mich selbst als eine Kontinuität zu erzählen? Es ist sehr individuell, aber gleichzeitig auch eine allgemeine Erfahrung, die viele schon mal erlebt haben.

VH
Erlebt man Brüche, wenn sie passieren, oder bemerkt man sie erst im Nachhinein?
LT
Das hat uns auch sehr fasziniert. Wir haben versucht haben, eine Dramaturgie eines Bruches herauszudestillieren. Wo entsteht der Riss? Kommt das immer durch einen äußeren Einfluss oder ist es eine Ermüdungserscheinung? Auf jeden Fall gibt es nach einem Bruch einen neuen Zustand, mit zwei oder mehr Teilen. Wie erzählen wir diese Teile? Versuchen wir, den Bruch unsichtbar zu machen, oder stehen wir zu diesem Zustand?
VH
Welche Zustände gibt es denn nach einem Bruch? Bei einem Stimmbruch zum Beispiel zerbricht ja nichts, sondern etwas wächst.
EMB
In der Pubertät ist es ein Wachstum, und der Stimmbruch geht in etwas Neues über. In der Transition ist das auch so. Für die Leute in der Transition ist das etwas ganz tolles. Im Alter ist es natürlich anders. Eine von unseren älteren Chormitgliedern geht mit ihrer gebrochenen Stimme total souverän um. Das finde ich spannend, denn ihre Stimme bleibt ja jetzt so. Es geht um den Umgang damit. Nehme ich das jetzt an und gehe in so ein Projekt wie den Bruchchor? Oder schäme ich mich und verstecke mich damit?
VH
Was waren sonst die Motivationen der einzelnen Chormitglieder, mitzumachen?
EMB
Eine Teilnehmerin, die gerade mitten in der Pubertät steckt, will einfach mal auf die Bühne. Die ist total energisch und hat einfach große Lust, das auszuloten. Eine andere Person ist gerade in der Transition. Bei ihr ist es, glaube ich, diese stille Freude darüber, dass das jetzt passiert, und die Möglichkeit, sich auf so eine Weise damit zu beschäftigen, aber trotzdem den Schutz der Gruppe zu haben. Und eine Teilnehmerin ist schon Mitte 80 und hat einfach Freude an ihrer Stimme.
VH
Was interessiert euch denn künstlerisch an Brüchen?
EMB
Ich liebe Brüche im Schauspiel. Ich finde das toll, von einer in die andere Haltung zu wechseln, ohne zu erklären, wie ich jetzt vom Schmerz ins Glück komme. Diese Behauptungen nebeneinanderzusetzen, das ist ja auch eine Schauspieltechnik. Mit diesen Brüchen und mit Distanz hat auch Brecht ganz viel gearbeitet.
VH
Bruch kann also bedeuten, eine Erklärung nicht zu geben. Ihr habt also kein Problem damit, das Publikum zu desorientieren?
EMB
Ich glaube, diese Desorientierung hält einen wach. Dass Dinge keine Kontinuität haben, passiert im Leben ja auch ständig.
LT
Man muss ja nur einmal durch die Stadt gehen und sieht permanent völlig gegensätzliche Situationen, die unmittelbar aufeinandertreffen. Arme Menschen, reiche Menschen, Gesunde, Kranke. Aber auch jede Komödie hat traurige Momente. Man kann das Kontrast oder ein Nebeneinander nennen, aber es ist auch immer der Abbruch einer Kontinuität.
EMB
Wir haben ja diese Sehnsucht nach Kontinuität. Das zu erklären, eine Akzeptanz dafür zu entwickeln, dass die Dinge brüchig sind und dadurch auch wahnsinnig komplex und scherbenhaft, und Lust auf diese Erfahrung zu machen und das irgendwie auszuhalten… das ist ja Diversität. Es passt nicht alles in einen Topf und es ist total vielschichtig. Das ist ja eigentlich total toll.
LT
Inwiefern wird Bruch auch immer als etwas Zerstörerisches, Negatives erzählt? Vom Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt haben wir gelernt, dass Brüche oder Spaltung vielleicht gar nicht so manifestiert sind in der Gesellschaft, aber dass der Bruch auch durch das permanente Beschreiben durch die Medien herbeierzählt wird.
EMB
Und dass das etwas Schlechtes ist, was uns auseinandertreibt, anstatt zu sagen, wir stehen auf verschiedenen Seiten, aber wir können ja trotzdem miteinander reden und gucken, was daraus entsteht. Darum geht es auch im Stück. Wir haben uns viel mit Rebecca Solnit beschäftigt. Die hat geschrieben, dass in der Hölle das Paradies entsteht, also, dass in der Krise und im Bruch die Kraft zur Transformation und zum Neuen liegt. Der Satz hat irgendwas provoziert, irgendwas kitzelt der raus, finde ich, und der wird jetzt auch am Anfang des Stücks vom Chor gesungen.

VH
Warum ist das so schwer, sich auf Transformationen einzulassen?
EMB
Also ich mag Krisen. Für mich sind Krisen der Boden für jegliche Kreativität. Wenn alles wattig und blumig ist, dann werde ich müde.
VH
Das heißt, die aktuelle Krisenstimmung macht dich nicht nervös?
EMB
Ich bin nervös, aber kreativ nervös. Ich will etwas anbieten. Ich habe so viele Projekte in meiner Schublade wie nie, weil es so viel anstößt. Natürlich, ich habe Kinder und es ist wahnsinnig herausfordernd. Aber eine unserer Darsteller:innen, Jane, sagt im Stück: “Pessimismus ist Zeitverschwendung.” Sie sieht die Gefahr, aber sie behält ihren Optimismus. “Und selbst, wenn ich mich geirrt haben sollte, hatte ich ein schöneres Leben.” Auch, wenn das nicht heißt, dass ich jetzt die Lösung habe.
VH
Bruch ist ein ähnlicher Begriff wie der berühmte Kipppunkt. Diese Begriffe verändern irgendwie die Zeitwahrnehmung: Kipppunkte sind etwas, worauf wir zusteuern, als Horrorszenario, aber auch als etwas, das noch verhindert werden kann. Dabei übersieht der Begriff all die Veränderungen, die in der Gegenwart stattfinden. Gibt es Veränderungen, die ihr jetzt schon spürt? Zum Beispiel beim Thema Kulturpolitik?
LT
Wenn ich daran denke, was ich in den letzten Wochen von Kollegen gehört habe, wie wahnsinnig schwierig das war, ihre Produktionen umzusetzen, oder von Kollegen, die gerade Projekte einreichen und überall Zustimmung dafür kriegen, aber immer noch nicht wissen, wo sie die letzten 2.000 € herkriegen, nachdem sie schon alles runtergespart haben, dann weiß ich auch nicht so richtig, wo das gerade hingeht. Da frage ich mich schon, wo ich gerade den Optimismus hernehmen soll.
VH
Als Donald Trump Anfang des Jahres anfing, Dekret nach Dekret zu verabschieden, gab es ganz früh Expert:innen, die von einer Zeitenwende gesprochen haben. Ich fand das interessant, wie schnell sie diesen Bruch ausmachen konnten. Für mich selbst sind massive Veränderungen häufig erst im Rückblick klar. Vielleicht kann künstlerische Arbeit aber auch so etwas wie ein Thermometer sein, um Veränderungen aufzuzeichnen.
EMB
Ich merke das immer daran, wie sich Verhaltenscodes plötzlich ändern. Plötzlich darf man Sachen sagen, die vorher tabu waren, einfach so. Es ist überhaupt kein Problem mehr. Oder in der Kulturpolitik: Plötzlich wird nicht mehr geredet. Die Personen, die sonst immer wie eine Verbindung in die Szene waren, dürfen nichts mehr sagen. Da ist dann plötzlich eine Tür zu, die vorher noch offen war. Das ist dann schon eine Plötzlichkeit, die ich bemerke.
LT
Im Moment ist es ja auch ganz konkret, dass einfach kein Geld fließt. Es gibt Spielstätten, die kein Geld haben, um ihre Leute zu bezahlen.
EMB
Und für uns konkret bedeutet das, super viel nebenher zu machen, für drölftausend Sachen gleichzeitig Anträge zu schreiben.

VH
Friedrich Merz hat ja kurz nach der Wahl Organisationen unter Druck gesetzt, die gegen seine Migrationspolitik demonstriert haben. Ihr bezieht euch in euren Arbeiten ja auch immer auf gesellschaftliche Zustände. Ist das etwas, das euch beschäftigt? Dass ihr über Konsequenzen nachdenkt, wenn ihr politische Arbeiten macht?
LT
Bei diesen 551 Fragen ging es um gemeinnützige Vereine, die vom Bund Fördergelder bekommen, und wir sind ein gemeinnütziger Verein. Aber als Künstler:innen sind wir gerade mit genügend anderen Sachen beschäftigt.
EMB
Gerade ist die Kunst noch so politisiert, dass ich mir keine Sorgen mache. Und die, die gerade die Gelder verwalten, sind alarmiert und fordern eine klare Haltung gegen rechte Tendenzen. Bei den darstellenden Künsten verwaltet auf Landesebene ja das NRW Landesbüro Freie Darstellende Künste die Förderungen, und stellt auch die Juries aus der Szene und nicht aus der Politik heraus. Das ist zumindest ein mittelfristiger Schutz vor politischen Stimmungswechseln.
VH
Die letzten Monate waren wir ja sehr damit beschäftigt, das Bestehende zu bewahren. Man hat sich gar nicht mehr getraut, mehr zu fordern. Aber vielleicht sollten wir uns langsam wieder fragen, was wir eigentlich aufbauen wollen. Das kann ja auch Kraft geben.
EMB
Und das spielt den Rechten gar nicht in die Karten. Wenn man ein konstruktives, utopisches Zukunftsmodell aufbaut, das nicht davon erzählt, wie schrecklich die Menschen sind und dass wir alle Wölfe sind, die sich gegenseitig auffressen.

This article is brought to you as part of the EM GUIDE project – an initiative dedicated to empowering independent music magazines and strengthen the underground music scene in Europe. Read more about the project at emgui.de
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*POLAR PUBLIK e. V. ist eine Gemeinschaft von Künstler:innen aus den Genres Tanz, Theater, Neue Musik und Bildende Kunst, die sich in ihren transdisziplinären Projekten an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft aktuellen Verhältnissen und Situationen widmen, in denen die Phänomene Macht und Ohnmacht explizit werden. Das Kollektiv zeigte seine Werke u.a. beim Schauspiel Köln und bei ORBIT – Festival für aktuelles Musiktheater in Köln.