NOIES MUSIK
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Zeitung für neue und experimentelle Musik

reise nach gijs burger: dann muss man es eben selbst machen

Aus Noies 06/23 Juni 2024

Seit 1986 ist Gijs Burger Kantor und Organist der Petrikirche in Mülheim an der Ruhr. Unter der Ägide des unablässig arbeitenden Kirchenmusikers wuchs über Jahrzehnte erfolgreich ein Festival für Neue Musik, wurde aus einem einzigen gewöhnlichen Kinderchor eine Singschule mit klassischer Gesangsausbildung. Ein Einblick von Hanna Fink.
Aufführung von »HD« von Dieter Schnebel bei Utopie jetzt! . Foto: Walter Schernstein
Aus Noies 06/23

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utopie-jetzt.de

Von Hanna Fink


Überall liegen Noten verstreut herum, dazwischen lugen Tasteninstrumente hervor, ständig bimmelt das Telefon, gleich ist noch eine Probe, kennst du diesen Teil, ja warte, kurz angespielt, dazu gesungen – man kommt vom Tempo kaum hinterher. Aber: der Kopf ist sortiert, der Verstand ist klar, die Übersicht vorhanden, sein Geist frohen Mutes. 2018 lernten wir uns kennen, als er im Rahmen des Mülheimer Festivals »Utopie jetzt!« Dieter Schnebels Bühnenwerk »Luther 500« aufführte. Der Komponist verstarb während der Vorbereitungen, gemeinsam brüteten wir beim Einrichten der Noten also über den Manuskripten, rätselten über Vorzeichen, Textphrasen und Lautstärkegrade. Mit manchmal nervenaufreibender Detailversessenheit, unablässig arbeitend und dennoch, bewundernswert, mit stets guter Laune begleitete mich Gijs beim Edieren und Finalisieren des Stücks. Von ihm lernte ich nicht nur viel übers Einrichten, sondern vor allem etwas über die Musik Dieter Schnebels. Und dass Fahrradfahren in jeglichen Situationen für die eigene Gesundheit hilft, selbst wenn der Stift brennt. 

Gijs Burger lernte nach seinen Studien in Zwolle, Niederlande, auch in Essen bei Gerd Zacher. Ob durch ihn die Begeisterung für zeitgenössische Kompositionen geweckt wurde? »Wir haben kein einziges Stück neue Musik gemacht, nur Bach, Reger, Mendelssohn.« Dafür aber hinterließ ein Orgelmarathon mit ausschließlich jungem Repertoire im niederländischen ‘s-Hertogenbosch nachhaltig Spuren der Begeisterung. Knapp zehn Jahre war er nun im Amt, da reichte ihm die Alte Musik nicht mehr, es war »ein bisschen wie Museum«. Das kann doch nicht alles gewesen sein. Auf der Suche nach Workshops und Kursen fand er: eher wenig. Und wie so oft in seinem beruflichen Leben agierte Gijs Burger nach dem Motto: »Wenn es das bei uns nicht gibt, dann muss man es eben selbst machen«. 

Aufführung von »Luther 500« von Dieter Schnebel, unter der Leitung von Gijs Burger. Foto: Dirk Grobelny

Gemeinsam mit seinen Kollegen Andreas Fröhling, heute Kreiskantor in Gelsenkirchen und Wattenscheid, dem Niederländer Klaas Hoek (Spezialgebiet Harmonium) sowie Roman Summereder aus Wien organisierte er Seminare rund um das Thema neue Orgelmusik, anfangs mit Gästen wie Hans-Joachim Hespos und Gerhard Stäbler. Die Zielgruppe: »haupt- und nebenberufliche Kirchenmusiker:innen sowie Studenteninnen, die einen Einstieg in die zeitgenössische Orgelmusik suchen oder bereits gemachte Erfahrungen vertiefen möchten.« 2004 stieß als weiterer künstlerischer Leiter Prof. Manfred Schreier, der Kuratoren ehemaliger Lehrer für Chorleitung, hinzu. Mit ihm kam ein weiterer regelmäßiger Gast, der bis zuletzt bei jeder Ausgabe der Biennale »Utopie jetzt!« dabei sein sollte: Dieter Schnebel war als Komponist, aber eben auch als Theologe eine spannende Figur für die Szene. Ein breites Vortrags- und Konzertprogramm erweiterte die Seminare, auch die Öffnung zur Vokalmusik blieb nicht aus, bis die anfänglichen Orgelkurse schließlich zu einem mehrtägigen Festival für Neue Musik mit thematischen Schwerpunkten wurden, gemanagt durch Susanne Reimann. 

Das Programm fasste nicht nur »Kindertotenlieder« von Mahler gepaart mit Gelsenkirchener Death Metal, sondern auch »Harley Davidson« von Dieter Schnebel und jede Menge Gastauftritte von Ensembles wie dem WDR Rundfunkchor und anderen. Darunter Chöre der örtlichen Singschule – auch diese unter der Leitung von Gijs Burger. Zu Beginn seiner Karriere stand er vor einem Kinderchor mit zwanzig Kindern, die einen über-, die anderen unterfordert. »Ich hatte keine Erfahrung. Nach drei Wochen habe ich den Chor dann geteilt. Und dann erstmal alles falsch gemacht, alles viel zu tief gesungen.« Anstatt aufzugeben, probierte er Verschiedenes aus, holte sich Inspiration von englischen Kathedralchören, betrieb Stimmbildung, organisierte ein Singspiel. »Wie macht man aus einem Nichts einen Chor?« 2002 gründete er die Singschule an der Petrikirche, 2006 eröffnete er darin einen eigenen Jungen-Zweig. Mittlerweile singen 160 Kinder und Jugendliche in mehreren aufeinander aufbauenden Gruppen Woche für Woche und führen einmal im Jahr eine große Kinderoper auf. 

Die Institution ruht auf den Schultern der Gemeinde sowie einer Stiftung, begleitet von einem Fachgremium, welches die Gemeinde in künstlerischen Fragen berät und somit den nötigen Abstand zum Verwaltungssystem Kirche hat. Denn wie geht eine Religionsgemeinschaft mit einem derart aktiven Kirchenmusiker um? Zu oft sehen sich Presbyterien genötigt, unnötige Zäune hochzuziehen, lieber die allseits beliebte Popmusik zu fordern, Orgeln zu retten, ohne die Musik fördern zu wollen, oder sie können sich schlicht kein finanzielles Risiko leisten. Widerstände musste Burger dank seines guten Stands in der Gemeinde dennoch nur wenige überwinden. Und so merkt man ihm die ehrliche Dankbarkeit für die oftmals gegebenen Vorschusslorbeeren an. Abgesehen von einem Szene-Publikum mit nationaler Reichweite konnte er stets auf eine organisch gewachsene Zuhörerschaft bauen: Durch die Verankerung des Festivals in der Petrikirche und die aktive Teilnahme vieler Sänger:innen aus der eigenen Singschule hörten auch viele Menschen zu, die sonst nicht mit neuer Musik in Berührung gekommen wären. Freundlich verschmitzt erzählt er von einem Besucher, dem sich bis heute eine Performance aus den Song-Books von Cage eingebrannt hat: im Zeitlupentempo stieg der barfüßige Maulwerker tatsächlich mitten über die Bänke – für einen derart ideologisch gebundenen Raum und seine Insassen eine Sensation. Bis heute. Dabei sind Kirchen als Konzerträume (für Orgelmusik sowieso) unerlässlich, ihre Lage oft unvergleichbar gut, ihr Fassungsvermögen und ihre Barrierefreiheit kaum zu toppen. 

Und auch wenn die lokale Presse bei lauter Blau-, Rot- und-Flutlicht die Kultur vor Ort geflissentlich übersieht, blickt Gijs Burger der Zukunft der Kirchenmusik im Ruhrgebiet optimistisch entgegen, wie er mit Blick auf seinen Nachfolger, aber auch auf Veranstaltungen wie das Orgelfestival Ruhr betont. Man brauche einfach Neugierde. Welche Stücke er zum Praxiseinstieg empfehlen würde, frage ich ihn zum Abschluss: Feldman (»Principal Sound«), Messiaen (»Chants d‘oiseaux«) und Kagel (»Rossignols enrhumés«) – die verschnupfte Nachtigall, erklärt er mit einem Grinsen.

Gijs Burger geht zum 1. Januar 2024 in Ruhestand.

Gijs Burger. Foto: Fotografie Köhring

Gijs Burger studierte Kirchenmusik, Orgel und Chorleitung. Er ist Kantor und Organist der Petrikirche in Mülheim an der Ruhr, gründete die »Singschule an der Petrikirche« und veranstaltete das Neue Musik-Festival »Utopie jetzt!«. 2000 erhielt er den »Ruhrpreis für Kunst und Wissenschaft« der Stadt Mülheim an der Ruhr.