NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

brief an stefan charles

Aus Noies 02/22 Juli 2022

In der Rubrik »Brief an« stoßen Kölner Kultur-Akteur:innen Gespräche an, die in der Öffentlichkeit geführt werden sollten. In dieser Ausgabe wendet sich die Initiative Freie Musik (IFM) an den Kölner Kulturdezernenten Stefan Charles.
Aus Noies 02/22

musik-in-koeln.de

Lieber Stefan Charles,

wir hoffen, wir treten Ihnen nicht zu nahe, wenn wir Sie weiterhin als unseren „neuen Kulturdezernenten“ begrüßen. Sie haben frischen Wind mitgebracht, viele Akteur:innen und Institutionen kennengelernt, neue Impulse gesetzt und sich dabei immer wieder klar als Unterstützer der freien Kunst- und Kulturszene positioniert – jetzt sind wir gespannt, welche Ideen und konkreten Schritte aus Ihren bisherigen Begegnungen und Erfahrungen in Köln entstanden sind.

So gerne wir uns als Initiative Freie Musik (IFM) den konkreten täglichen Herausforderungen widmen und die kommunale Musikförderung mitentwickeln (aktuell zum Beispiel das neue Musikförderkonzept der Stadt Köln, die Vergabeverfahren, die Erfassung des Bedarfs bei Probe- und Produktionsräumen), bewegen uns auch die größeren Fragen der kulturellen Entwicklung unserer Stadt. So haben wir beim Symposium „Blaupause“ im September mit Expert:innen und Verbänden aus Köln, NRW und Deutschland Zukunftsfragen der freien Kulturszenen erörtert. Einige davon möchten wir auch Ihnen stellen – Grundsatzfragen, auf die wir Antworten eher suchen als bereits gefunden haben.

Wie sehen „next cultural institutions“ und „new meaningful public spaces“ aus, die Kultur und Stadt zu einer elektrisierenden und aneigenbaren res publica machen und gleichzeitig Katalysatoren gesellschaftlicher und ökologischer Transformationsprozesse sind? Mit dieser Frage hat uns der ehemalige Chefdramaturg des Ballett Frankfurt Steve Valk beim Symposium so drangsaliert und herausgefordert, dass der Dialog seitdem nicht mehr abgerissen ist.

Wo entstehen die großen und langfristigen kulturellen und kulturpolitischen Visionen der Stadt – und wer kann sie formulieren und durchsetzen? Wir wünschen uns neue produktive Balancen zwischen „transparenten partizipativen Prozessen“ und „kühnen Hinterzimmervisionen“. Könnte die Stadt ein öffentlich zugängliches Inventar der nicht verwirklichten Visionen und Ideen der letzten Jahrzehnte anlegen?

Gibt es sinnvolle Wege, überholte Projekte und Strukturen aufzulösen, um Raum für Neues zu schaffen? Wo sollte umgekehrt in langen historischen Kontinuitäten in die Zukunft gedacht werden? 

Wie kann sich in immer dichter bewirtschafteten, bebauten und verwerteten Städten die Wildheit von Kultur (und Natur) ausdehnen? (Sub-)Kulturelle Freiräume und künstlerische Freiheiten sollten nicht noch lückenloser mit Governance-Prozessen von Ordnungsamt bis Stipendienprogramm verknüpft werden; Stadt muss unabhängig von individuellen Ressourcen aneigenbar bleiben.

Wie können lokale grassroots-Prozesse und internationale Vernetzung neue Allianzen eingehen? In welchen Strukturen und Prozessen könnte ein gleichberechtigtes Zusammenwirken von freier Szene und städtischen Institutionen organisiert werden?

Wie könnten radikalere Experimente mit Entbürokratisierung, Entprekarisierung, fluiden Strukturen oder kultureller Diversität aussehen? Wie sind Freiheit und Qualität von Kunst und gesellschaftspolitische Agenden in ein angemessenes Verhältnis zu setzen?

Wir vermuten, dass viele dieser Fragen auch Sie beschäftigen und würden uns freuen, mehr von Ihnen dazu zu hören. Und: Wir möchten anregen, geeignete Räume zu schaffen, in denen sich langfristige Visionen für die Kultur in Köln wirksam verdichten können.

Mit besten Grüßen,
Vorstand Initiative Freie Musik IFM e.V.
Thomas Gläßer, Dorrit Bauerecker, Ulla Oster

Die Initiative Freie Musik ist die kulturpolitische Interessenvertretung und Aktionsplattform der freien professionellen Musikszene in Köln in den Bereichen Alte Musik, Elektronik & Klangkunst, Globale Musik, Jazz, Klassik und Neue Musik.