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gespräch mit juan allende-blin: vom schweigen zum schweigen

Aus Noies 04/24 August 2024

Juan Allende-Blin, geboren 1928 in Santiago de Chile, lebt seit mehr als sieben Jahrzehnten in Deutschland. Im Gespräch mit Evelin Degen und Matthias Geuting äußert er sich zu zentralen Aspekten seiner kompositorischen Arbeit.
Foto: Niels Herrmann
Aus Noies 04/24

part-musik.de

Evelin Degen und Matthias Geuting 
Lieber Juan, wie hat das bei Dir mit dem Komponieren angefangen?

Juan Allende-Blin 
In jungen Jahren entdeckte ich, dass komponierte Klänge eine sinnvolle Aussage ausdrücken können, wie eine Sprache ohne Worte. Als ich mit dem Komponieren anfing, analysierte ich die Variationen op. 27 für Klavier von Anton Webern. Eine zarte Musik, in der jeder Ton von Affekten geladen ist. Es war kühn, diese Komposition als »Variationen« auszugeben, denn sie verzichtet auf ein Thema. Ich fand damals, dass der Terminus »Transformationen« geeigneter sei und komponierte aus dieser kritischen Haltung 1951 meine »Transformations I pour piano soliste, instruments à vent et percussion«. Viele weitere »Transformationen« folgten. Man könnte diese Musik athematisch nennen. Denn es geht um eine konsequente Erneuerung der musikalischen Gedanken – wie in der Prosa der Wortsprache.

EDMG
Wenn man fast 80 Jahre komponiert hat, darf man sich fragen lassen: Lohnt sich die Anstrengung des Komponierens? Und ist das Komponieren im Alter ein anderes als früher?

JAB
Wenn man so lange komponiert hat, will man nicht aufhören, nur weil man alt ist. Heute komponiere ich mit der Erfahrung von so vielen Jahren, konzentrierter als früher. Ich glaube, dass ich im hohen Alter konzentrierter komponiere. Auch meine Ziele sind präziser.

EDMG  
Eine Deiner zuletzt fertiggestellten Arbeiten war die radiophone Collage »Monolog/Dialog«, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Deutschlandfunk. Darin beziehst Du Dich auf eine Stelle bei Jorge Semprún, der die Ankunft einer Gruppe von Jüdinnen und Juden im Konzentrationslager Buchenwald beschreibt.

JAB
Mein Kontakt zu Buchenwald kam zustande durch die Lektüre der Bücher von Jorge Semprún. Semprún entdeckte in Buchenwald seinen Lehrer der Soziologie an der Sorbonne, Maurice Halbwachs, der im Sterben lag; anstelle eines Gebets rezitiert er für ihn ein Gedicht von Baudelaire, auf das sich zunächst meine Kantate »Le voyage«  bezog. Zwanzig Jahre nach diesem Stück, das war 2022, wollte ich endlich Buchenwald kennenlernen. Die Reise war für mich ein besonders intensives Erlebnis. Die Bilder, die ich mir beim Lesen der Bücher von Jorge Semprún gemacht hatte, wurden hier zu wahrhaftigen Orten der Qualen und des Todes. Als ich »Monolog/Dialog« komponierte, hatte ich noch keine Ahnung, dass dieses Werk in Buchenwald uraufgeführt werden würde. Mein Auftraggeber bei Deutschlandradio Kultur, Marcus Gammel, hatte die Klangcollage in Weimar vorgeschlagen. Leider war Semprún nicht mehr am Leben, als ich dieses Werk komponierte. Dieses Mal konnte ich nicht mehr mit ihm telefonieren, aber ich stelle mir vor, dass er präsent war und präsent ist jedes Mal, wenn das Stück aufgeführt wird.

Juan Allende-Blin mit Evelin Degen. Foto: Niels Herrmann

EDMG 
Beim Hören Deiner Musik fallen die oftmals großen Pausen auf. Welcher Begriff von »Stille« steckt dahinter?

JAB
Die Stille, die so entsteht, ist für mich ein unhörbarer Klang. Edmond Jabès drückt sich so aus: »… le silence qui écoute le silence.« Oder Gershom Scholem: »Das Sprechen geht vom Schweigen zum Schweigen. Das ist eine der tiefsten Wahrheiten der Sprache. Die Sprache liegt dazwischen als Medium des Schweigens. In ihr wird geschwiegen.« In meinen »Silences interrompus«, in der Coda, spielt der Klarinettist Chalumeau, der Kontrabassist Gusle, eine einsaitige kleine Violine, und der Pianist japanische Bambusglocken. Die neuen Instrumente sagen Adieu durch leise Töne. Noch einmal Scholem: »Schweigen ist der Ursprung der Sprache – man sollte zwischen Ursprung und Entstehung unterscheiden.« Wie der Titel »Silences interrompus« verrät, bilden hier die Klänge das Ufer der Stille. Die Stille der Pausen gestaltet den musikalischen Diskurs. Sie ist ein Teil der Botschaft.

EDMG 
Du hast immer auch für die Orgel geschrieben. Was hat Dich an diesem Instrument gereizt?

JAB
Seit »Sons brisés« aus dem dreisätzigen Orgelzyklus »Échelons« (1966/1967) versuche ich, neue Farben bei diesem Instrument durch herabgesetzten Winddruck zu erzeugen. Dadurch entstehen Klänge, die ein reiches Spektrum von Obertönen produzieren. In einem anderen Orgelstück, »Mein blaues Klavier« von 1970, wird sogar fast durchweg mit niedrigem Winddruck gespielt. Außerdem bekommt die ehrwürdige Orgel zwei Instrumente als ungewöhnliche Nachbarn: eine Maultrommel, die den Atem des Spielers hören lässt, und eine Drehorgel. Die Drehorgel wird mit ruckartigen Bewegungen voller Pausen gespielt, so dass isolierte, verfremdete Klänge hörbar werden.

EDMG 
Als eine Besonderheit bei Dir empfinden wir die lebenslange Verbindung zu Tanz und Choreographie. Wie kam es dazu?

JAB
Das führt in meine Kindheit und Jugend in Santiago de Chile zurück. Mein Vater, der Musikkritiker war, nahm mich oft mit zu interessanten Aufführungen von Opern, Theaterstücken oder eben Ballettabenden. Damals kamen die großen Künstler, die vor Hitler flüchteten, nach Nord- und Südamerika, so dass ich einen Teil des Repertoires von Diaghilew sehen konnte und eben auch das Jooss-Ballett, das bei mir einen tiefen Eindruck hinterließ. Der zweite Grund war meine Freundschaft mit dem Tänzer und Choreographen Jean Cébron. So entstanden in gemeinsamer Arbeit die Ballette »Séquence« und »Recueil«. Auf diese Weise lernte ich die Sprache des Tanzes.

EDMG 
Gibt es Projekte oder Träume, die Du noch verwirklichen möchtest?

JAB
Ja, eine Kantate über ein spätes Gedicht von Federico García Lorca, »Por el cielo vacío / Durch den leeren Himmel«. Weiterhin »Face-à-face« für Flöte mit Gong und Orgel. García Lorca spielt für mich eine immense Rolle: er war ein genialer Dichter, den die Franco-Schergen ermordeten, weil er schwul und politisch links war. Er wurde nur 38 Jahre alt. Ich habe Menschen um mich, die meine Werke ausgezeichnet interpretieren; für sie komponiere ich gerne. Sie inspirieren mich, weil sie schöpferisch sind.

Ein Großteil der Partituren von Juan Allende-Blin sowie ein ausführliches Werkverzeichnis sind bei der Edition Gravis (Brühl/Berlin) erschienen.
Literatur: Immer auch ein politischer Impuls. Juan Allende-Blin im Gespräch mit Christian Esch und Frank Schneider, Altenburg 2017.

Juan Allende-Blin lebt als freischaffender Komponist in Essen. 2018 wurde er mit dem Chilenischen Nationalpreis für Musik ausgezeichnet. Die Flötistin Evelin Degen und der Organist Matthias Geuting (beide PART-Ensemble) realisierten zahlreiche gemeinsame Projekte mit dem Komponisten.