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reise nach bochum: musik ist manchmal nur ein mittel, damit man zusammenkommt. 50 jahre kemnade international

Oktober 2024

1974 fand zum ersten Mal die Kemnade International statt – ein einzigartiges Musikfestival, das von migrantischen Selbstorganisationen und dem Museum Bochum organisiert wurde. Diesen Sommer feierte das Kunstmuseum Bochum das 50-jährige Jubiläum des Festivals mit einem Programm aus Konzerten, Installationen und Talks, Archivmaterial und zeitgenössischen Perspektiven. Kuratorin Eva Busch erklärt, was das Festival so wegweisend gemacht hat – mit einem besonderen Fokus auf das musikalische Programm.
Foto: Hartmut Beifuß

1. Das Kulturbüro Bochum organisierte eine historische Ausstellung auf der Burg Kemnade, dem ehemaligen Ort des Geschehens, mit Zeitungsartikeln, Plakaten, aber auch Fotografien und einordnende Texte.
2. Insgesamt 2 Schallplatten mit Songs und Mitschnitten vom Festival wurden über das Bochumer Label ROOF Music veröffentlicht. Der Titel der LP von 1978 lautet: „KEMNADE LIVE. Mitschnitte vom 5. Ausländerfestival Kemnade International am 23., 24. und 25. Juni 1978 auf der Wasserburg Haus Kemnade“. 1981 erschien dann KEMNADE LIVE II mit Liedern von Cem Karaca, Zülfü Livaneli, Selda, Orfeas & Rosa, Mara, Machitun, Juan Miranda und anderen.
3. In dem Lied heißt es També per tu, qui sempre trobes / Que el guany és poc i el risc és dur: / Tu, per qui mai no val la pena / D’alçar la veu contra ningú. (Auch für dich, der immer feststellt, dass der Gewinn gering und das Risiko groß ist: / Du, für den es sich nie lohnt, / deine Stimme gegen irgendjemanden zu erheben.)

Von Eva Busch


In seinem 2022 veröffentlichten Dokumentarfilm “Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod” (2022) zeichnet Cem Kaya ein Portrait der türkischen Musikszene in Deutschland. Ihren Anfang verortet er in den 1960er-Jahren mit den Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei. Das Leben der Menschen, die zum Arbeiten kamen, bestand schließlich nicht nur aus Arbeit, sondern auch aus kulturellen Aktivitäten. Seine beeindruckende Sammlung an Archivmaterial zeigt: es entstanden über die Jahre eigenständige Musikstile, Labels und transnationale Netzwerke. Das Musikfestival Kemnade International, dessen 50. Jubiläum wir aktuell feiern, sollte ursprünglich auch Teil des Films werden. Vielleicht weil Bochum doch zu sehr Provinz ist, vielleicht auch einfach, weil sich dieses besondere Festival nicht ohne weiteres in die Erzählung einweben ließ – Kemnade schaffte es nicht in die finale Fassung. Im Rahmen der Ausstellung “Die Verhältnisse zum Tanzen bringen – 50 Jahre Kemnade International” im Kunstmuseum Bochum ist der Ausschnitt nun zu sehen. Fragmente aus Fernsehbeiträgen über das Festival geben nicht nur einen bewegten Eindruck von der Festivalatmosphäre mit Stars wie Şivan Perwer und Cem Karaca. Sie erzählen auch von der Faszination einer Mehrheitsgesellschaft über das besondere Ereignis.

Kemnade International. Foto: Hartmut Beifuß

Die erste Ausgabe des Musikfestivals Kemnade International fand vom 28. bis 30. Juni 1974, also vor gut 50 Jahren auf dem Gelände der Wasserburg Haus Kemnade statt. In idyllischer Atmosphäre an der Stadtgrenze zwischen Bochum und Hattingen präsentierten sich hier internationale und regionale Bands, Politgruppen und Tanzensembles. Es gab Essensstände, politische Informationsstände und Diskussionen, sowie ein Kinderprogramm und es wurden 6000 Tickets verkauft. Das Festival war eine Initiative des Kunstmuseum Bochum (damals Museum Bochum) und des Sozialamts der Stadt. Die Idee war, gemeinsam ein Kulturprogramm auf die Beine zu stellen und als Institution dabei lediglich den organisatorischen Hut aufzuhaben. Das war damals in der BRD eine neue Form der Zusammenarbeit zwischen einer städtischen Kulturinstitution und migrantischen Selbstorganisationen. Die inhaltlichen Entscheidungen über Programm und Gestaltung sollten vom Organisationskomitee getroffen werden, ein Gremium bestehend aus Vertreter*innen verschiedener migrantischer Gruppen und Selbstorganisationen. Und davon gab es in Bochum und im Ruhrgebiet viele. 

Die Festivalgründung fiel in eine Zeit des migrationspolitischen Umschwungs: Während Arbeitsmigration im Nachkriegsdeutschland seit 1955 durch Anwerbeabkommen mit verschiedenen Staaten begünstigt und staatlich organisiert (und damit auch reguliert) wurde, beendete der Anwerbestopp von 1973 offiziell die Ära “Gastarbeit“. Die Ignoranz, die viele der angeworbenen Arbeitskräfte von der deutschen Mehrheitsgesellschaft weiterhin erfuhren, besang Cem Karaca in seinem Song “Es kamen Menschen an“: 


“Es wurden Arbeiter gerufen / doch es kamen Menschen an / Man brauchte unsere Arbeitskraft / die Kraft die was am Fließband schafft / Wir Menschen waren nicht interessant / darum blieben wir euch unbekannt“. 


Wie sehr es auf Kemnade darum ging, die Frage nach einem gemeinsamen Zusammenleben praktisch und mit den Mitteln der Kulturarbeit anzugehen, zeigt das 1974 veröffentlichte Poster, mit dem die Macher*innen des Festivals erstmals in die Öffentlichkeit gingen:

Poster zur ersten Festivalausgabe 1974, Kunstmuseum Bochum

Neben Arbeitsmigrant*innen aus Italien, Griechenland, Jugoslawien, der Türkei, Portugal und Spanien waren genauso linke Exilant*innen aus Chile und Spanien, kommunistische kurdische Gruppen, feministische Gruppen aus Vietnam und Deutschland, und z.B. die Interessengemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen beteiligt. In einer solchen Konstellation gemeinsam zu planen und das Fest zu veranstalten, wurde auch auf den frühen Postern und Programmheften als “Experiment“ bezeichnet. Sich der Vorstellung einer stets friedlichen Feier der Vielfalt hinzugeben, greift selbstverständlich zu kurz. Es gab Konflikte, strenge Regeln, Unzulänglichkeiten und für die Zeit des Festivals selbst galt immer das Friedensgebot. Und offensichtlich war der Wunsch nach etwas Gemeinsamen groß genug, um das Gelingen zu sichern. Kazım Çalışgan, der in den 2000ern mit Bertram Frewer die künstlerische Leitung von Kemnade übernahm, beschrieb es so: 


“Das ist so wie Woodstock, ein freier Geist. Politisch, aber doch trotzdem frei im Kopf. Die Gruppen haben unter sich gestritten, hatten politische Auseinandersetzungen, aber auf Kemnade gab es diese Atmosphäre des Feierns.“  


Das Festival wuchs, zog zeitweise bis zu 100.000 Besucher*innen an und erlebte über die Jahre unterschiedliche Wandlungen in Organisationsform und Programm. Karl-Heinz Schneiders, der lange Jahre wesentlich für den Aufbau des Festivals zuständig war: 


“Die Veränderung war irgendwann Ende der 80er Jahre, da wurde es ein anderes Festival, wurde auch weniger. Aber bis in die 80er Jahre war’s ein Highlight in Bochum, oder für’s ganze Ruhrgebiet. Man sagte: In Istanbul kenne man Bochum nicht, aber die Kemnade würde man kennen.“ 


Über seine eigene Erfahrung resümiert er: 


“Es hat mich geprägt, das ganze Festival, ob menschlich, musikalisch, oder auch kulinarisch. Den ersten Döner hatte ich da, das muss man auch sagen.“

Aufführung einer Musikgruppe bei dem ersten Festival Kemnade International am 28. Juni 1974 auf der Wasserburg Kemnade. Foto: Stadt Bochum, Presseamt


Heute, 50 Jahre und ca. zwei Generationen später, gibt es Kemnade International nicht mehr. Das Ende des Festivals auf Kemnade war die Erneuerung der Bauschutzverordnung in den 2000ern. Der Burghof von Kemnade war nicht mehr für Großveranstaltungen zugelassen. Dafür gibt es das Nachfolge-Festival Ruhr International, das näher am Stadtzentrum stattfindet. Das 50. Jubiläum war Anlass, die bisher wenig dokumentierte Geschichte gemeinsam mit vielen Beteiligten wachzurütteln.¹ Für das Kunstmuseum Bochum durften meine Kollegin Özlem Arslan und ich eine Ausstellung kuratieren, die das Erbe des Festivals in unserer heutigen, postmigrantischen Gegenwart zugänglich macht, aber auch kritisch reflektiert. 14 Künstler*innen entwickelten hierfür neue Arbeiten, die gemeinsam mit Archivmaterial, Leihgaben und historischen Arbeiten aus dem Festivalkontext zu sehen waren. Die Ausstellung war von einer Reihe DJ-Sets, Performances, Konzerte und öffentlicher Gespräche begleitet, in denen sich nicht nur ein vielstimmiges Erinnern, sondern auch viele Perspektiven auf unsere Gegenwart ergaben. So ist dieser Text ein Streifzug durch ein Festivaljubiläum, eine Ausstellung, eine ganze Reihe von Erinnerungen und Begegnungen, die Kemnade damals und heute ermöglicht hat.

Die Ausstellung beginnt mit einem Beitrag des Bochumer Cute Community Radio, ein Raum und Radiosender in Bochum und zugleich eine Plattform zum Produzieren und Veröffentlichen von diasporischer Pop- und Clubkultur. In ihren wöchentlichen DJ-Sets stellt es marginalisierte, regionale Künstler*innen ins Zentrum seines Programms. In der Ausstellung positioniert es sich hier als aktuelle Antwort auf die Tradition von Kemnade International. 

CCR3000X, entwickelt von den DJs Guy Dermosessian und Rubimental für „Die Verhältnisse zum Tanzen bringen. 50 Jahre Kemnade International“ im Kunstmuseum Bochum. © Heinrich Holtgreve, Kunstmuseum Bochum

Die Arbeit CCR3000X, entwickelt von den DJs Guy Dermosessian und Rubimental, ist ein raumschiffartiger Tisch mit Keyboard und Drehknöpfen, hinter denen sich 32 Samples verbergen. Als musikalisches Material dient hier die erste zum Festival veröffentlichte Platte “Kemnade Live“ von 1979.² Die Düsseldorfer Produzentin Shalee hat Ausschnitte hieraus ausgewählt und dazu passende neue Beats entwickelt. Besucher*innen dürfen an den Reglern drehen, mit dem Keyboard eigene Melodien hinzufügen und so selbst neue Songs mixen, in denen Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen. Im Fokus sollen dabei Gemeinschaft, gemeinsames Wirken und Experimentieren stehen, sowie eine generationsübergreifende Feier des Erbes von Kemnade. Dass Besucher*innen hier oft lang bleiben, im Ausstellungsraum tanzen oder zumindest nicht ganz stillstehen zeigt, wie viel Freude darin liegt, gemeinsam Musik zu hören und zu kreieren – auch im Museumsraum. 

„Carambas y Güiras“ von Pável Aguilar bei „Die Verhältnisse zum Tanzen bringen. 50 Jahre Kemnade International“ im Kunstmuseum Bochum. © Heinrich Holtgreve, Kunstmuseum Bochum

Eine Beschäftigung mit dem Spannungsfeld von Instrumenten und deren Musealisierung stand auch am Anfang der Klanginstallation Carambas y Güiras, die Pável Aguilar für das Jubiläum entwickelt hat. Der ehemalige Festivalort, die Wasserburg Kemnade, ist seit Jahrzehnten auch Ausstellungsort für eine internationale Sammlung von Musikinstrumenten. In Vitrinen oder mit “bitte nicht berühren“ Schildern versehen, steht sie im starken Kontrast zur Lebendigkeit des Festivals. Aguilars Arbeit ist sowohl Skulptur als auch bespielbares Instrument, inspiriert von Musiktraditionen der honduranischen Karibik. Daneben liegen Holzstäbe zum Bespielen bereit. Das klingt nicht immer und automatisch gut, aber es lohnt sich, es zu ausprobieren. Mit seiner Arbeit betont er hier die Bedeutung des Austauschs von Ideen, Klängen und Musikinstrumenten. Und natürlich: Kemnade lässt sich nicht konservieren, sondern ruft auch heute noch nach Austausch, Improvisation und dem Ablegen von Berührungsängsten.

Nicht berührt werden darf die großformatige Malerei “Der Sänger” (1989) von Carlos Manrique, der seit 1977 in Köln lebt. 1991 hatte er auf Vorschlag der Bochumer Chile-Initiative mit seiner Salsa-Band Kimbiza das Abschlusskonzert der Kemnade gespielt. Später zeigte Manrique den Museumsmitarbeiter*innen einige seiner Arbeiten. Diese waren so überzeugend, dass ein Jahr später, 1992, seine Einzelausstellung im Kunstmuseum Bochum stattfand. 

Manrique kam nach einem Kunststudium in Venezuela nach Deutschland. Er war zuerst als Straßenmusiker tätig, später studierte er an der Fachhochschule für Kunst und Design in Köln, wurde Teil der Stollwerk Bewegung und war in der Graffiti-Szene aktiv. Seine Arbeitsweise ist durch eine Synthese aus Malerei, bildender und darstellender Kunst geprägt und auch “Der Sänger” könnte gut ein Bühnenhintergrund sein. Immer wieder verband er Motive aus Bilderwelten der Azteken und der Moche mit der Graffiti-Kunst oder dem Neuen Expressionismus der 1980er-Jahre. Seine Geschichte ist eine von mehreren, die zeigen, dass Kemnade nicht nur das regelmäßig stattfindende Festival war. Eine ganze Reihe von Kunstwerken kamen über das Festival in die städtische Kunstsammlung, politische Tagungen wie 1975 der erste “Ausländerkongress der BRD“ fanden im Museum statt, es gab ein aktives Netzwerk, das das Haus prägte.

Zur Vorbereitung der Ausstellung waren wir in Kontakt mit vielen ehemals am Festival Beteiligten. Unter anderem führte meine Kollegin Özlem Arslan Foto-Interviews mit 12 Wegbegleiter*innen der Kemnade. Ihr Ansatz war: Je nachdem, wer auf eine Fotografie schaut, sieht etwas anderes und so ist der Beitrag eine Einladung, zunächst in die vielstimmigen Erzählungen und Anekdoten ehemals Beteiligter einzutauchen. 

Hüsnü Işık. Foto: Hartmut Beifuß

Darunter der Bochumer Musiker Hüsnü Işık. Seit der ersten Festivalausgabe 1974 bis zum diesjährigen Ruhr International war er jedes Mal auf der Bühne dabei. “Ich heiße Işık, aber die deutschen Kameraden rufen mich Isik“, erzählt er. Işık hatte schon in den 1960er Jahren in der Türkei Bekanntheit erlangt und vier Schallplatten veröffentlicht. 1971 blieb er bei einer Tournee in Deutschland und wurde direkt 1974 von Targan Kuzucuoğlu, der damals für die AWO tätig war, zur Kemnade eingeladen. “Das ist ein großer Teil von meinem Leben“ sagt er und berichtet von vierstündigen Konzerten, bei denen er sein Publikum begeisterte. “Das Publikum war sehr neugierig, weil damals gabs hier in Deutschland, wenig Bağlama-Spieler. Deswegen war ich kurze Zeit ganz oben.“ 

„Die Verhältnisse zum Tanzen bringen. 50 Jahre Kemnade International“ im Kunstmuseum Bochum. © Heinrich Holtgreve, Kunstmuseum Bochum

Ein anderer Gesprächspartner in den Foto-Interviews ist Kamil Ertürk, der in Bochum geboren wurde, lange Jahre in Istanbul einen Club betrieb und nun wieder in Deutschland ist. Auch er war seit 1974 dabei, damals als Kind. Im Sommer 2023 reagierte er auf einen öffentlichen Aufruf, den wir u.a. gemeinsam mit dem Stadtarchiv veröffentlicht und mit dem Poster der ersten Festivalausgabe bebildert hatten. Er hatte darauf seine Eltern erkannt, sein eigenes Poster hängt noch in Istanbul. Er beschreibt, wie viel ihm dies bedeutet: 


“Ich finde, diese Menschen sehen sehr schön aus. […] Damals wollten wir Gastarbeiter, die erste Generation Türken, wir wollten den Menschen erstmal zeigen, was wir drauf haben. Wir sind nicht nur hier als Arbeiter, wir sind auch Menschen. Wir haben unsere Kunst, unsere Musik, unser Essen.“ 


Neben einer Erinnerung an die entmenschlichenden Fremdbilder der deutschen Gesellschaft erinnert er daran, wie bestärkend die Kemnade-Erfahrung für ihn und seine Eltern war. 


“Da seh ich was Revolutionäres. Ich kann sagen, meine Eltern sind nicht nur nach Deutschland gekommen und haben malocht, sie haben auch gute Sachen gemacht. Sie haben an internationalen Festivals teilgenommen.“ 


Und schließlich erinnert er an die Aufgabe, weiter am Gemeinsamen zu arbeiten: 


“Was wir erlebt haben, oder die Eltern erzählt haben – Rassismus, Diskriminierung, Sprachbarrieren, Schwierigkeiten in der Schule – wenn ich heute mit den neuen Migranten in Deutschland spreche, die erleben das Gleiche. Auch da gibt es Missverständnisse. Wir müssen das heute anders machen, wir müssen eine Brücke sein.“ 


Auch die heutige Schulleiterin Şahver Münch war als Kind auf dem Festival. Sie erinnert die Offenheit dort: 


“Die Frauen hatten alle Miniröcke an, waren geschminkt, hatten die Haare hoch. Die Männer hatten Bärte, Schlaghosen. Es war so ein Hippieflair, Männer und Frauen haben gemeinsam getanzt, getrunken. Die Gerüche waren sehr besonders, es hat nach lauter Köstlichkeiten gerochen.“ 


Dann erzählt sie von einer besonderen Begegnung mit Cem Karaca, dessen Fan sie war. 


“Dass der zur Kemnade gekommen ist, um für uns zu singen, war herausragend. […] In meiner Begeisterung, dass er den weiten Weg auf sich genommen hat, wollte ich ihm was Gutes tun. Ich hab ihm meine zwei D-Mark Taschengeld hingestreckt. Er fand aber, dass er die nicht nötig hat, ich solle mir selbst was davon gönnen. Ich hab nicht locker gelassen und hab ihm dann mein Kaugummi angeboten, das ich gerade im Mund hatte. Das hat er angenommen, ich war zufrieden und er war sehr glücklich darüber.“ 


Anekdoten wie diese vermitteln vielleicht mehr über die besondere Qualität von Kemnade International. Das Cute Community Radio entwickelte als Hommage einen Kaugummi zum Mitnehmen: Huba Babo.

Ansicht von Kemnade International 1993, Konzert Şivan Perwer. Foto: Bestand Stadt Bochum, Presseamt, Fotograf Hartmut Beifuß

Eine weitere der internationalen Stars, die mehrfach auf Kemnade, aber auch im Museum auftraten, war die katalanische Sängerin und sozialistische Aktivistin Teresa Rebull. Das Lied “També per tu” (Auch für dich)³ ist heute auf einem großen Banner in der gleichnamigen Installation der Künstlerin Marina Naprushkina zu lesen. Ein Gerüst, das lange als Stand für Informationen und Essen auf dem Festival zum Einsatz kam, wurde hierfür umfunktioniert. Die Konstruktion beherbergt nun eine Annäherung an ein Archiv der politischen Forderungen, welche im Rahmen des Festivals verbalisiert, visualisiert, gesungen und getanzt wurden. Die Arbeit zeigt existierendes Archivmaterial wie Fotografien von Bannern und Plakaten mit Aufschriften wie “Integration ist Machbar, Herr Nachbar“, “Arbeitsplätze, statt Ausländerhetze“, “Graue Wölfe jetzt verbieten!“, Rufe nach internationaler Solidarität, “Demokratie für Südkorea“, oder der kritische Slogan “Multikulturell feiern, national abschieben“. Diese Sammlung wird von einem öffentlichen Aufruf ergänzt, welcher vor der Ausstellung gestartet wurde. Und es ist eindrücklich, wie aktuell viele der Forderungen weiterhin sind: Bleiberecht, Wahlrecht, ein solidarisches Miteinander, Kriege und ein Verlangen nach Frieden und die Verweigerung, sich selbst nur als Arbeitsmaschine zu begreifen – nichts davon hat sich bisher erledigt. Weitere Fotografien, die als Collage angeordnet sind, zeigen Bewegungen, bei denen Menschen ihre Hände berühren, im Tanz zusammen, einander näherkommen. Musik, Tanz, gemeinsames Feiern und Fürsorge – was wäre politische Arbeit ohne diese Praktiken?

“També per tu” (Installation im Vordergrund) von Marina Naprushkina bei „Die Verhältnisse zum Tanzen bringen. 50 Jahre Kemnade International“ im Kunstmuseum Bochum. © Heinrich Holtgreve, Kunstmuseum Bochum

Das Verhältnis zwischen Politik und Kunst wurde in der Festivalgeschichte immer wieder kritisch befragt und unterschiedlich ausgelotet. Manchen kam das eine zu kurz, anderen das andere. Rückblickend scheint Kemnade gerade dadurch zu überzeugen, dass es kein Widerspruch war. Als 1993 kurz vor dem Festival der rassistische Brandanschlag von Solingen stattgefunden hatte, war die Überzeugung: Jetzt braucht es erst recht ein Fest, das für etwas anderes steht. Kazım Çalışgan dazu: 


“Als ich mit Bertram Frewer [Anfang der 2000er] die künstlerische Leitung übernommen habe, war mir das Politische natürlich auch wichtig, aber der künstlerische Anspruch war für mich im Vordergrund.“ 


Und er hatte künstlerisch ambitionierte Pläne:


“Für mich ging es auch nicht um das Folkloristische, was die Leute oft gesucht haben. Die Gesellschaft hat sich auch gewandelt, ich wollte ein bisschen experimentellere Sachen machen. Ich hab’ zum Beispiel auch Tanztheaterprogramm gemacht, Derwish-Tänze, Videoinstallationen, Projektionen, große Bigbands. Für mich war die transkulturelle Begegnung wichtig. Ich habe auch Formate wie Turkish Jazz made in Germany eingeführt. […] Menschen sind sehr bewusst dort hin gekommen. Es war kein Straßenfest, kein Ausländerfest, es war ein Festival. Das wollte ich erreichen. Miteinander neugierig sein, begeistert sein, auch miteinander ruhig sein, auch dafür gab es Orte auf dem Festival. Zu viel Musik geht auch nicht, Musik ist manchmal nur ein Mittel, damit man zusammenkommt.“

Foto: Hartmut Beifuß

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Eva Busch ist Kuratorin und stellvertretende Direktion beim Kunstmuseum Bochum. Sie interessiert sich für machtkritische Erinnerungsarbeit, Differenz und Möglichkeiten des Gemeinsamen. Neben temporären Zusammenarbeiten mit Institutionen wie der Akademie der Künste der Welt in Köln oder der Kunstsammlung NRW, ist sie mit ihrer Praxis in den letzten Jahren vor allem im atelier automatique (Bochum) verortet gewesen.