NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

noies chimären sophie emilie beha: meine ohren klingeln sturm

August 2023

Sophie Emilie Beha wird von April bis Juni als NOIES Chimäre hybride journalistische Formen austesten. Ihr dritter Beitrag – ein Hör- und Lese-Stück – widmet sich einverleibtem Erkennen in Körper und Text.

Es passiert blitzschnell. In der einen Millisekunde, in der ich meinen linken Fuß hebe, um ihn vor meinen rechten zu setzen. Alles ist normal. Bis zu der Eruption. Glühende Massen brechen aus tiefsten Tiefen hervor. Schleudern auf mich zu. Meine Reflexe ducken sich schneller, als dass mein Gehirn ein Fragezeichen formulieren kann

Meine Ohren klingeln Sturm. Erstarrender Schock jagt. Kalter Beton schießt durch meine Glieder. Ich sehe keine Sterne, sondern Bilder.

Es passiert blitzschnell.

Der Gedanke, dass diese Situation alle vorherigen umdeuten wird. Ein neuer Scheinwerfer erscheint im Raum. Extrem hell und objektiv beleuchtet er die Szene. Wann habe ich den Auftakt verpasst? Vergänglichkeit wirft sich über mich mit einer Feuerlöschdecke. Ich stehe an die Wand gelehnt und gucke. Meine Füße bewegen sich keinen Millimeter. Mein Kopf rastet an der Senkrechten. Ich blicke und versuche so, die Situation in mein Gehirn zu meißeln. Meine Augen ruhen auf Al Capone.

»Als Flüchtlingskind kam sie aus Insterburg in Ostpreußen an die Donau. Und wenn sie wollte, konnte sie noch mit herrlich breitmelodischer Tonalität in ostpreußischer Mundart ganz privat Geschichten erzählen.«
– Harald Raab, Liberal und unerschrocken

Verbrauchte Schwere hängt sich an meine Glieder. Einzelne Gewichte, die wie beim Feldenkrais von Punkten an meinem Körper baumeln, ziehen jetzt alle Richtung Erdkern. Schluck. So ist das also. Das ist jetzt so.

Ich will mich auch verwandeln, meinen Körper verlassen und einen neuen annehmen.

»Als wär’s ein Wunder – fing das Auto an zu wachsen, wurde riesenschwarz, wurde eine Gangsterlimousine wie in dem Film mit Al Capone.«
– Janosch, Ein Regenauto zum Geburtstag

Ich schreibe nichts, sondern mache ein Foto und ein Video. Abschied.

Ich lege Worte aus. Durch die Wiederholung verlieren die Worte ihren Schrecken. Buchstaben ausgeschnitten. Ich interviewe unabsichtlich Gedanken.

Ich interviewe unabsichtliche Gedanken.

Ich schreibe mich in ein Museum, auf eine Website, in eine Freundschaft, auf eine Steuererklärung. Wenn Zebras eine arg stressige Situation erlebt haben, beispielsweise eine Hetzjagd von einem Löwen, fangen sie an zu zittern: Damit können sie Stress schnell wieder abbauen. Ich habe auch gezittert.

Erinnerungen sind keine verlässlichen Informationen – unreale Realitäten. Text, den es nicht gibt. Es hat sich ausgestört. Andere Längen- und Breitengrade entstehen über den Kratern und ich trete aus meinem Text heraus. Muscheln schneiden in die nackten Füße. Ich flüchte aus dem Haus und suche den See. Ich transkribiere die Gedankeninterviews in wortlose Wendeltreppen.

Sophie Emilie Beha arbeitet in verschiedenen Kontexten, darunter Musik, Text, Sprache, Kuration, Improvisation, Dramaturgie und Poesie. Sie ist Autorin und Moderatorin für verschiedene öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Außerdem schreibt sie regelmäßig für Zeitungen und verschiedene Fachzeitschriften.

Ihr Fokus liegt auf zeitgenössischer sowie transtraditioneller Musik, Jazz und Klassik. In Köln kuratiert Beha Konzerte und Festivals im Stadtgarten und hat das interdisziplinäre Festival guterstoff mitgegründet. Außerdem ist sie Dramaturgin des Sänger:innenkollektivs PHØNIX16 in Berlin und Mitglied des experimentellen Vokalensembles Γλωσσα (Glossa), mit dem sie 2022 das Karl-Sczuka-Recherchestipendium gewonnen hat.

Im Jahr 2021 wurde sie für den Preis für deutschen Jazzjournalismus nominiert und seit 2022 wird ihre kuratorische Tätigkeit von NICA artist development gefördert.

Sophies AI Chimärenporträt basiert auf einem Foto von Judith Wiesrecker und den Antworten von Sophie auf folgenden Fragebogen:

Wenn du in einer anderen Zeit leben könntest, welche wäre das?

Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris (oder ist das zu ungenau?)

Was ist deine Lieblingsjahreszeit?

Frühsommer

Wenn du ein Tier wärst, welches wäre das?

Eine Gämse