NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

gedanken über postkoloniale neue musik: wege aus der dauerschleife

April 2024

Von kolonialen Denkstrukturen ist auch die Neue Musik nicht befreit: Neue Musik-Diskurse produzieren ihre ganz eigenen Konzepte von »Authentizität«. Warum man diese hinterfragen sollte, in welcher Gegenwart sich die aktuelle Musik befindet und wie es gelingen könnte, sie zu dekolonisieren, untersucht Sophie Emilie Beha in ihrem Essay über postkoloniale neue Musik.
von links nach rechts: Du Yun fotografiert von Zhang Hai, meLê yamomo fotografiert von Zé de Paiva, Harald Kisiedu fotografiert von Andrea Rothaug

Von Sophie Emilie Beha

Dieser Text ist der Versuch einer Annäherung. Das Thema Postkolonialismus beziehungsweise Dekolonialismus ist so komplex wie vielfältig, schwer fassbar und polarisierend. Es kann einen antreiben, aber auch niederschmettern: die postkolonialen Nachwirkungen in den ehemaligen Kolonien, die verschiedenartigen Reflektionen dazu und das Weiterwirken von kolonialem Denken, Empfinden und Handeln bis in unseren Alltag hinein. Die Debatten dazu sind längst auch in der zeitgenössischen Musik angekommen. Festivals, Konzerthäuser, Ensembles und Symposien haben sich auf verschiedene Weise damit auseinandergesetzt. Beispiele dafür sind das Forum neuer Musik im Deutschlandfunk, das Essener NOW!-Festival, die Donaueschinger Musiktage oder die MaerzMusik. Schon jetzt ist die neue Musik an vielen Orten vielgestaltig, offen und tolerant – wenn auch noch nicht überall gleichermaßen. Bereits im Jahr 1980 veröffentlichte die Neue Zeitschrift für Musik einen Artikel von John Rockwell, in dem Diversität als wichtiger Trend in der US-amerikanischen Musik-Kuration dargestellt wurde. Dieser Text konzentriert sich allerdings nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Gegenwart und überprüft den momentanen Stand der Dinge. Dabei postkoloniale wie dekoloniale Mechanismen in all ihrer Gesamtheit zu zeigen, ist in diesem Rahmen gar nicht möglich. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit, viel eher soll er auf einige Punkte hinweisen, die mir und den Protagonist:innen besonders wichtig waren. Er will neugierig machen und soll ermutigen, von hier aus weiterzuforschen.

Zunächst aber eine Einordnung: In den 1980er Jahren entstanden die Postcolonial Studies – meist unter Bezug auf Edward Saids Buch »Orientalismus« von 1978. Die Perspektive ist jedoch älter: Bereits bei Mahatma Gandhi, Frantz Fanon oder Aimé Césaire finden sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg Positionen, die eine ähnlich ausgerichtete Kritik am kolonialen Diskurs formuliert haben. Die Postcolonial Studies stehen für einen in hohem Maße interdisziplinären Zugang mit vielen verschiedenen Ausrichtungen. Paula-Irene Villa Braslavsky, Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München, erklärt, was die verschiedenen Subgruppen eint: »Bei aller Verschiedenheit lässt sich doch sagen, dass das, was unter dem Label ›postcolonial‹ läuft, entweder eine künstlerische oder eine forschende oder eine politische Auseinandersetzung damit ist, wie eine bestehende Wirklichkeit, egal in welchem Rahmen sie geprägt und konstituiert ist, verstanden und entwickelt werden muss im Sinne einer nachkolonialen oder noch immer kolonial geprägten Situation.«

»Es ist ein begrenzter, eingeschränkter Blick auf das, was zeitgenössische Musik ist, was eben nicht die Gesamtheit und Komplexität dessen, was tatsächlich existiert, abbildet und repräsentiert.«
– Harald Kisiedu

Ein häufiges Missverständnis beim Verwenden des Begriffs »postkolonial« ist, dass er oft zeitlich verstanden wird – also als würde er die Zeit beschreiben nach dem Ende des Kolonialismus oder dem Unabhängigkeitstag, an dem sich ein Land von seiner Fremdherrschaft gelöst hat. Zwar sind im Laufe der Nachkriegszeit die meisten ehemaligen Kolonien in die staatliche Souveränität entlassen worden – mehrheitlich in den 1960er Jahren, allerdings Mosambik und Angola erst 1975 und Hongkong erst 1997. Mit der politischen Dekolonisation waren koloniale Beziehungen jedoch nicht mit einem Schlag beendet. Viele Abhängigkeitsverhältnisse, beispielsweise auf wirtschaftlichem Gebiet, dauerten an und wurden seit den 1960er Jahren unter dem Stichwort des Neokolonialismus diskutiert. Außerdem machten in vielen neu unabhängig gewordenen Staaten die sozialen Eliten eine Politik, die sich von der innerhalb der Kolonialzeit nur wenig unterschied. Post-kolonial erschöpft sich also nicht in einem zeitlichen »danach«, das Wort zielt vor allem auf die Dekonstruktion und Überwindung zentraler Annahmen. Es geht um eine Auseinandersetzung mit und Anfechtung von kolonialen Diskursen, Machtstrukturen und sozialen Hierarchien.


Befinden wir uns in einer Sackgasse?

Aber was bedeutet das in Bezug auf zeitgenössische Musik? Darauf gibt es viele verschiedene Antworten und Sichtweisen. meLê yamomo formuliert seine in deutlichen Worten: »An diesem Punkt stelle ich immer wieder fest, dass die zeitgenössische Musik keine zeitgenössische Musik ist. Stattdessen ist sie die Sackgasse der Evolution der westlichen Musik. Und zwar eine Sackgasse wegen ihrer Arroganz, auf die die zeitgenössische Musik immer noch besteht. Sie ist immer noch Teil des kolonialen Systems, das sich weigert, andere Systeme als gleichwertig zu betrachten.« meLê yamomo, 1980 in Manila geboren, lebt heute in Berlin. Er ist Komponist, Theatermacher, Kurator und forscht zur Wahrnehmung von Klang aus dekolonialer Perspektive. Auch wenn das Export- und Missionierungsbedürfnis der neuen Musik aus den 1950er Jahren mittlerweile überwunden scheint – die neue Musik ist nach wie vor in zahlreiche Fallstricke verheddert und tritt Tag für Tag in Fettnäpfe. Einer davon ist sogar unsichtbar. Die Musikwissenschaftlerin und Komponistin Dana Reason hat dieses Phänomen den »Mythos der Abwesenheit« genannt. Der Musikwissenschaftler und Saxofonist Harald Kisiedu wird gemeinsam mit dem Komponisten George Lewis ein Buch zu genau diesem Thema herausgeben: »Der Begriff lässt sich sehr gut auf die Abwesenheit afrodiasporischer Komponist.innen anwenden – in Hinblick auf Konzertprogramme, in Hinblick auf die Geschichtsschreibung und auf das fast vollständige Fehlen eines Bewusstseins für afrodiasporische Musik und ihre Geschichte, die Teil der zeitgenössischen Musik ist.«

Auch wenn Kisiedu explizit von afrodiasporischer Musik spricht, kann der »Mythos der Abwesenheit« ausgeweitet werden auf alle Musiktraditionen, die nicht den gängigen anerkannten innerhalb der Neuen-Musik-Szene entsprechen. Zwei konkrete Beispiele: Die kubanische Komponistin Tania León hat 2021 den Pulitzer-Preis gewonnen, im Jahr davor war es Anthony Davis, 1951 in New Jersey geboren, Komponist und Pianist. Beide sind People of Color. Der Pulitzer-Preis ist ähnlich berühmt wie die Oscars. Aber die deutschen Leitmedien haben das kaum gewürdigt. Harald Kisiedu macht das fassungslos: »Es ist einfach ein Nicht-zur-Kenntnis-nehmen-Wollen und ein Aus-der-Geschichte-Herausschreiben. Gleiches gilt auch für eine wissenschaftliche Beschäftigung im Hinblick auf die Geschichtsschreibung von Musik, wo Beiträge eben dieser Leute einfach nicht vorkommen; im Hinblick auf kuratorische Arbeit, wo Musik dieser Komponist.innen nicht gespielt wird und noch viel mehr. Es ist ein begrenzter, eingeschränkter Blick auf das, was zeitgenössische Musik ist, und der eben nicht die Gesamtheit und Komplexität dessen, was tatsächlich existiert, abbildet und repräsentiert.«

»Da ist immer diese Angst, dass ich das nie schaffen werde und dass ich immer versagen werde.«
– meLê yamomo

Ein weiterer blinder Fleck liegt dort, wo zwar die westliche Geschichtsschreibung nicht hinkommt, aber dafür der westliche Blick, beziehungsweise der westliche Kanon. meLê yamomo wurde 1980 in Manila geboren und ist auf den Philippinen (ehemals spanische und amerikanische Kolonie) aufgewachsen. In seiner musikalischen Ausbildung hat er sich ausschließlich mit dem klassischen westlichen Kanon auseinandergesetzt – das ist leider oft der Standard und nicht die Ausnahme. »Daran sehen wir, dass der Kolonialismus wirklich global funktioniert, weil es eine ganze Geschichte der Wissensproduktion und der Schaffung einer bestimmten Ästhetik ist, die Europa immer den Vorrang gab. Und ein Großteil dieses Erbes ist überall auf der Welt verankert.«  Seine Erfahrungen haben yamomo verunsichert. Er hatte das Gefühl, dass er nie ein richtiger Komponist werden kann, weil die berühmten Komponisten alle das verkörpert haben, was ihm unmöglich war: Sie waren weiß. meLê yamomo weiß mehr über den europäischen Kanon und die Biographien von europäischen Komponist.innen als über die seines Heimatlandes, dessen Nachbarländer oder von irgendeinem anderen Kontinent. Überall folgen Musikhochschulen demselben System. »Da ist immer diese Angst, dass ich das nie schaffen werde und dass ich immer versagen werde«, sagt yamomo. Auch heute noch, obwohl er erfolgreich Festivals und Konzertreihen kuratiert, Essays veröffentlicht und Stücke für Theaterproduktionen und Performanceprojekte entwickelt.


Was lehrt der gängige Kanon?

Auch andere Komponist.innen, mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, aus den Philippinen, Indonesien, Malaysia oder Chile, berichten ähnliches. Dass so viele Menschen außerhalb der sogenannten westlichen Welt sich so stark, beinahe ausschließlich, mit der sogenannten klassischen westlichen Musik auseinandersetzen (müssen), resultiert aus dem vorherrschenden Denken, dass die westliche Musik angeblich mehr wert sei als die eigene.

Das allein als Begründung heranzuziehen wäre allerdings zu einfach: Gerade in Vielvölkerstaaten, wie den Philippinen, kann klassische Musik auch eine neutrale Rolle einnehmen – zum Beispiel bei Nationalhymnen. Klassische europäische Musik ist viel unverfänglicher, als wenn sich beispielsweise Indonesien für die javanische und gegen die balinesische Gamelanmusik entscheiden würde. Außerdem können Musiker.innen mit einer klassischen Musikausbildung leichter an den sogenannten Westen anknüpfen, was für die oder den Einzelne:n wirtschaftlich durchaus erstrebenswert ist. Hier lauert allerdings schon der nächste Fallstrick, warnt Sandeep Bhagwati. Er ist Komponist, Wissenschaftler und Kurator und wurde 1963 im heutigen Mumbai geboren, heute lebt er in Montréal und in Berlin. »Ein Chinese, Koreaner, Japaner oder Inder, der an einer deutschen Hochschule studiert, wird eigentlich immer gefragt: Wo ist das Chinesische, Koreanische, Japanische, Indische in deiner Musik? So ist es auch mir immer ergangen. Und in dieser Frage schwingt auch der implizite Ratschlag: Wenn du es hier schaffen willst, in unserem Musikbetrieb, dann wäre es schon gut, wenn dein Name und deine Musik in irgendeiner Art in Verbindung gebracht werden könnten, ethnisch.«

Die Reduzierung auf die ethnische Herkunft kennen viele Künstler:innen nur zu gut. Zum Beispiel die chinesische Komponistin Du Yun, die seit Jahrzehnten in New York lebt. »Jemand hat letztens zu mir gesagt: Ich möchte einen Beitrag über dich machen, vielleicht sollten wir mal über chinesische Musik sprechen. Ich habe dann gesagt: Ich mache keine chinesische Musik. Ich sollte nicht die Sprecherin für China und dessen Musik sein. Außerdem ist ›chinesische Musik‹ ein sehr seltsamer Begriff. Das ist total verrücktes Gerede.« Mit diesem Gerede hat nicht nur Du Yun zu kämpfen, sondern alle, deren Herkunft nicht eindeutig dem sogenannten Westen zuzuordnen ist. Kunst soll schließlich immer lokal verortbar sein.

»Ist es die Wirklichkeit oder ist es eine Fassade?«
– Cedrik Fermont

Ein anderes Fallbeispiel: Cedrik Fermont ist ein belgisch-kongolesischer Komponist und Musiker. Sein Schwerpunkt liegt auf elektronischer, elektroakustischer und experimenteller Musik aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Auf seinem Label Syrphe veröffentlicht er oft Compilations mit in Europa unbekannten Künstler:innen. Die Reaktionen darauf seiner Kollegen und Freund:innen überraschen ihn immer wieder: »Einige Journalist:innen und Freund:innen, aber auch Leute, die solche Musik hören, haben mir gesagt: Prima, du hast diese Künstler:innen getroffen und ihre Musik veröffentlicht. Aber ich kann überhaupt nicht entdecken, dass sie aus Asien oder Afrika kommen, weil es keine Instrumente oder Melodien diesbezüglich gibt. Sowas macht mich fassungslos.« 2021 hat Cedrik Fermont zusammen mit Antye Greie-Ripatti den Workshop Sonic Writing & Soundings bei den Darmstädter Ferienkursen gegeben, der in diesem Jahr wiederaufgenommen werden soll. Dabei haben sechs Künstlerinnen aus asiatischen und afrikanischen Ländern sich gegenseitig ihre Musikpraktiken vorgestellt und am Ende gemeinsam mehrere Stücke erarbeitet. Und das mit extrem unterschiedlichen Ausgangslagen, die das technische Equipment und Know-How bis hin zu einer funktionierenden Internetverbindung betrafen. Das Projekt habe gegenseitig empowert, neue Perspektiven gezeigt und Verbundenheit hergestellt, erzählen die Teilnehmerinnen. Und, dass so etwas für sie bisher unüblich war.

Postkoloniale Mechanismen begegnen uns, ähnlich wie Alltagsrassismus und Klassismus, regelmäßig im heutigen Musikbetrieb. Komponist und Forscher Sandeep Bhagwati gibt ein Beispiel: »Stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn ein Neue-Musik-Komponist aus Indien sagen würde, dass in seinem Stück, was in Donaueschingen gespielt werden würde, Inuit-Gesänge und mexikanische Volksmusik verarbeitet werden. Dann würde die Reaktion vieler Leute heißen: Das kann man eigentlich nicht machen, weil der Inder muss seine authentische Sprache aus Indien schöpfen und mit der Neuen Musik in irgendeiner Form in einen Dialog treten. Aber er darf nicht andere Musik einbinden, so etwas geht nicht!« Hieran entzünden sich heute Identitätsdebatten. Weiße Menschen sind automatisch in der privilegierten Position. Sie verfügen per se über eine nicht-markierte Identität, das heißt, sie könnten ihre Einflüsse aus der ganzen Welt beziehen. Nicht-weiße Menschen sind markiert – und damit auch stigmatisiert – und müssen sich immer in Bezug auf ihre Markierung und ihre Zuschreibungen verhalten.

Konkret zeigt das ein Beispiel aus 2021: George Lewis hatte mit dem Ensemble Modern ein Konzert und ein Symposium zum Thema »Afro-Modernism in Contemporary Music« veranstaltet. Anschließend schrieb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass es bei der Veranstaltung darum ginge, den »black sound« zu finden. George Lewis meint dazu: »Wir haben nie behauptet, dass wir versuchen, einen ›black sound‹ zu definieren. Wir haben einfach sechs Schwarze Komponist:innen vorgestellt, die Musik geschrieben haben. Wir taten also etwas, das die Szene in Europa gerade nicht tat. Dieses Konzert vereinte afrodiasporische Perspektiven aus Europa, der Karibik, Großbritannien, den USA und Afrika, alles in einem Konzert.« Dass der Musikkritiker in der FAZ trotzdem zu seiner Annahme kam, liegt dem zugrunde, dass im gängigen Verständnis bestimmte klangliche Signifikanten existieren, anhand derer man glaubt, diese Einordnung machen zu können. Für nicht-markierte weiße Komponist:innen besitzen diese Signifikanten wiederum keine Gültigkeit. »Das ist eine sehr seltsame Vorstellung von Authentizität«, drückt Musikwissenschaftler Harald Kisiedu das sehr diplomatisch aus.

Weil wir uns selbst als den privilegierten Ort aller Aushandlungen und aller Begegnungen verstehen würden, seien wir kolonialistisch, sagt Sandeep Bhagwati. Denn die Begegnungen dürften nie nur untereinander, sondern müssten immer mit dem jeweiligen Gegenüber stattfinden. »Die neue Musik begreift sich implizit als die umfassendste Form des gesamten Musizierens auf dem Planeten«, so Bhagwati. »Das heißt, alle anderen Formen von Musik können irgendwie in der neuen Musik dargestellt oder verarbeitet werden, während andere Musiken das nicht dürfen, weil sie sich dann sozusagen verschmutzen. Sie sind dann nicht mehr authentisch.« Die zeitgenössische Musik verlangt also von anderen Musikkulturen Authentizität – von sich selbst aber nicht. Sie versteht sich selbst als grundsätzlich hybrid und vielfältig. Deswegen dürfe nur sie allein auf alle Ressourcen zugreifen – alle anderen müssten sich auf die eigenen Ressourcen beschränken, um akzeptiert zu werden.

Armin Köhler, ein ehemaliger Leiter der Donaueschinger Musiktage, sagte einmal zu Sandeep Bhagwati, dass er ihn nicht programmieren könne, weil er eine »Misch-Figur, eine Grenz-Figur« sei und forderte ihn im gleichen Gespräch auf, ihm doch »tolle, authentisch indische Künstler« für das Donaueschinger Programm vorzuschlagen. Heute gibt es zum Glück eine jüngere Generation von Intendant:innen und Veranstalter:innen: Mehrere Musikfestivals haben in jüngster Zeit hierzulande unbekannte Komponist:innen gezeigt, sich um Diversity im Programm bemüht und eine Auseinandersetzung mit postkolonialen Themen angestrebt. Allerdings besteht dabei immer auch die Gefahr des Tokenism, also des Alibis: Liegt es mir wirklich am Herzen, hierzulande unbekannte Musiker:innen zu zeigen, oder hole ich deswegen eine:n Composer of Color ins Programm, damit ich mir Vielfalt auf die Fahnen schreiben kann? Dieses Grundmuster ist leider gängig und instrumentalisiert viel zu oft die eingeladenen Künstler:innen.

Die Donaueschinger Musiktage haben 2021 ihr 100-jähriges Jubiläum mit dem Projekt Donaueschingen global gefeiert, das auch mehrfach kritisiert wurde. Dabei wurden vier Forscher:innen in verschiedene Regionen Südamerikas, Afrikas, Asiens und des Nahen Ostens von dem Festival losgeschickt, »um zeitgenössische Musiken außerhalb der bekannten Institutionen zu erforschen«. Eine von ihnen war die Komponistin und Performerin Du Yun aus New York. Für sie ist konkretes Handeln, der Praxisbezug, wesentlich wichtiger als zu theoretisieren. »Ich denke, dass wir uns wirklich auf die menschlichen Bedingungen konzentrieren müssen und weniger auf Theorien. Für mich geht es letztlich darum, welche Art von neuen Arbeiten entstehen und darum, ob wir durch diese Arbeiten tiefer die Probleme eindringen, die wir alle haben.«


Wie können wir dekolonisieren?

Eine aktive Entlarvung, Offenlegung und Dekonstruktion kolonialer Verhältnisse – das will der Dekolonialismus. Intervenieren durch Forschung oder Kunst. Dabei können Personen oder Kanons ebenso dekolonisiert werden wie Institutionen oder ganze Gesellschaften. Aber worauf kommt es dabei an? Natürlich Selbsterkenntnis: Zuerst müssen wir uns all der Fallstricke, Fettnäpfchen, Irrtümer und Unwissenheiten bewusst werden, die in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zu finden sind. Und dann? Musikwissenschaftler Harald Kisiedu sagt dazu: »Es geht um die Frage, inwiefern Leute bereit sind, nicht nur blinde Flecken anzuerkennen und sich einzugestehen, sondern auch ein Eingeständnis von Nichtwissen und davon, dass vielleicht die eigene ästhetische Autorität, die man für sich in Anspruch nimmt, doch nicht so umfassend ist. Es geht um ein Dazulernen-Wollen und darum, die Perspektive oder den Horizont erweitern zu wollen.«

Auch wenn wir noch so viele Theorien gewälzt oder uns die Köpfe heiß diskutiert haben – unser Horizont ist immer begrenzt. Deswegen ist es umso wichtiger, dass Foren geschaffen werden, um Postkolonialismus und Dekolonialismus zu thematisieren. Und dass Machtpositionen aufgegeben oder entzogen werden müssen und Betroffene besonders gefördert werden. Sandeep Bhagwati ergänzt: »Das ist die Aufgabe der Dekolonisation in der Neuen Musik: Bei aller Offenheit gegenüber allem sich der Tatsache zu stellen, dass anderen Leuten keine Identität aufgezwungen werden darf, nur weil sie einen bestimmten Namen oder irgendeine Herkunft haben.«

Ethnische Identität ist eine Wahl, sagt Bhagwati, genauso wie Geschlechtsidentität. Deshalb muss ich ganz alleine entscheiden dürfen, welche Einflüsse von wo mich und meine Arbeit ausmachen und auf wen oder was ich mich beziehe. Bhagwati geht sogar noch einen Schritt weiter: Er schlägt vor, dass man die zeitgenössische sogenannte westliche Musik ebenso als Nische begreift wie alle anderen Musikkulturen – und das auch benennt. »Dann könnte man daraus resultierend sagen: Wir nennen unser Festival nicht mehr Festival für Neue Musik, sondern Festival für die geschriebene Musik von weißen Komponisten über 40 Jahre. Dann ist klar, was man zeigt.« So würde die neue Musik ihren Universalanspruch aufgeben. Sie würde sich selbst markieren – und damit eine unter vielen markierten Musiktraditionen sein.

Dafür müsse man sich eingestehen, dass die eigene Musiktradition beschränkt sei – eben den eigenen Horizont anerkennen. »Dieses Eingeständnis nimmt einem niemand übel. Niemand will von einem Hip-Hop-Künstler erwarten, dass die nächste Platte inklusiv auch javanischen Gamelan und Jazz beinhaltet. Diese Forderung kann man nicht stellen. Genauso muss man nicht unbedingt von einem Neue-Musik-Festival verlangen, dass es alle Musik der Welt in sich repräsentiert, aber es muss halt seinen Namen ändern und sagen: Es ist nicht Neue Musik im universellen Sinne, sondern es ist Neue Musik aus diesem bestimmten Kontext, den man zeigt. Da muss man nicht inklusiv sein wollen um jeden Preis.« Mit dieser Lösung müsse man auch nicht die Gallionsfiguren der Neuen Musik auswechseln, sagt Bhagwati. Nur eben die Selbstbezeichnung.

Ob das wirklich passieren wird, ist fraglich. Was aber wäre realistisch in Deutschland – ein Land, das wie kaum ein zweites zeitgenössisches Komponieren und Musizieren fördert, und wohin es Musiker:innen aus aller Welt hinzieht? Neue Musik soll sich, laut Sandeep Bhagwati, ganz neu aufstellen, sie braucht neue Entscheider:innen und neue Architekturen. Das ist zwar oft extrem langwierig und kleinteilig, aber notwendig: Strukturen müssen diversifiziert, Personengefüge noch mehr internationalisiert werden und damit auch Institutionen, Gremien, Jurys, Vorstände, Verlage, Berichterstattung – letztendlich der komplette Organismus der zeitgenössischen Musik. Und das auf allen Ebenen, dann sind Education-Programme oder Projekte wie Donaueschingen global nicht länger Beiwerk, sondern stehen im Hauptprogramm.

Ein Schwenk nach England: Die Oxford-University hat dort 2021 angekündigt, dass sie den Musiklehrplan dekolonisieren wollte. Das bedeutete unter anderem konkret, dass afrodiasporische Musik ein fester Bestandteil des Lehrplans werden sollte. Daraufhin stellte ein Kritiker in der Welt die rhetorische Frage: »Will man wirklich einfach […] Peter Tschaikowsky durch Miles Davis ersetzen?« So ein Denken sei repräsentativ für einen gewissen Teil der Klassik- und sicherlich auch teilweise für die zeitgenössische Musikwelt, meint Musikwissenschaftler Harald Kisiedu.

Dem pflichtet der Komponist, Klangforscher und Kurator meLê yamomo bei: »Was ich problematisch finde, ist die mangelnde Vielfalt: Wir haben standardisiert, welche Musik in die Konzertsäle darf. Gleichzeitig ist aber auch standardisiert, wie man die Musik hört.« Deswegen plädiert yamomo für eine neue Form des Hörens. Denn auch beim Hören beeinflusst uns eine kolonialistische Prägung, die bestimmt, was vertraut ist und was fremd, merkwürdig, exotisch oder schräg.

Die allgemein etablierte Trennung der musikalischen Sparten – auch durch öffentliche Fördergelder – in unterhaltend und ernst, leicht und tiefsinnig, verfestigt Grenzen und Hierarchien zwischen musikalischen Traditionen, und das erschwert einen Austausch auf Augenhöhe. Trotzdem bergen sich in diesen Förderungen auch Möglichkeiten, sagt Sandeep Bhagwati: »Öffentliche Gelder kann man auch anders verstehen, eben als öffentlichen Auftrag. Und das ist eine Haltung, die sich immer mehr durchsetzt. Man kriegt nicht öffentliche Gelder, um dann seine Lieblingsprojekte zu machen, sondern man kriegt öffentliche Gelder, damit man eine Art Gesellschaftsvertrag eingeht, dass man dafür Dienstleistung erbringt, die die Leute auch wirklich brauchen.« Das sei die Chance in von Steuergeldern geförderten Institutionen und Projekten. »Dass man gefragt wird: Wem nützt das? Und nützt das genug Leuten? Und falls das nicht der Fall ist –  können wir da irgendwie was drehen, dass es mehr Leuten nützt als bis dahin?«


Wie klingt Dekolonisierung?

In einem Interview auf VAN Outernational, einem Online-Magazin, das sich unterschiedlichen Musiktraditionen und postkolonialen Themen widmet, sprach meLê yamomo darüber, wie Kolonialismus klingt. Aber wissen wir das nicht längst? Er ist schließlich omnipräsent – in Konzerten, auf Festivals, in großen Ausrufezeichen wie in kleinen Details. Wir hören ihn quasi alltäglich in Dauerschleife. Ist es nicht viel wichtiger zu fragen: Wie klingt Dekolonisierung?

Neue Musik ist eine Ressource, die alle nutzen können – also sollte sie auch für alle gleichermaßen zugänglich sein. Momentan gilt das aber nur für bestimmte Gruppen, alle anderen müssen in die Schubladen passen, die ihnen von außen zugewiesen werden. Akteurinnen und Akteure müssen sich ihrer eigenen Fallstricke bewusstwerden; aufhören, Diversität nur als ein Alibi zu benutzen und ihre Tragweite wirklich ernst nehmen; sich Wissen aneignen und sich sensibilisieren. Vor allem aber müssen sie ihre Wirkungsmacht nutzen, um diejenigen sichtbar zu machen, die momentan unsichtbar gemacht werden. Zum Beispiel müssen Räume geöffnet werden; Auftrittsmöglichkeiten, Kompositionsaufträge und Gelder angeboten werden. Und das stets intersektional: Dekoloniale Praktiken sind verbunden mit Anti-Rassismus, Feminismus, Gender-Theorien, Klassismus, Ableismus und Antisemitismus. Alle Künstler:innen, mit denen ich für diesen Essay gesprochen habe, haben das Gefühl, dass wir uns gerade im Umbruch befinden. Dass das Bewusstsein für postkoloniales Wirken und das Bedürfnis, aktiv an der Dekolonisierung mitzuwirken, wächst. Das macht Mut. Allerdings sollten wir uns nicht zu früh auf die Schultern klopfen. Der Weg ist noch sehr weit.


Dieser Text wurde uns freundlicherweise vom IFM e.V. zur Verfügung gestellt.

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Sophie Emilie Beha arbeitet in verschiedenen Kontexten, darunter Musik, Text, Sprache, Kuration, Improvisation, Dramaturgie und Poesie. Sie ist Autorin und Moderatorin für verschiedene öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. Außerdem schreibt sie regelmäßig für Zeitungen und verschiedene Fachzeitschriften.