Von Jan Paersch
Kurz vor Mitternacht in einer kleinen Stadt am Rhein. Der Fluss gluckert braungrün dahin, Güterschiffe ziehen Richtung Norden. Dort, wo sonst eine winzige Personenfähre ankert, liegt nun ein Koloss, unbewegt in der Strömung. Unter Deck der 85 Meter langen »MS RheinFantasie« dröhnen die Bretter. Das ganze Schiff scheint unter dem satten Bass zu erzittern.
Zum zweiten Mal findet kommendes Jahr in Monheim ein internationales Festival für experimentelle Musik statt: die Monheim Triennale. 2024 ist das Auftaktjahr, ein sogenanntes »Prequel«.
16 Künstler:innen sind für fünf Tage an den Rhein gekommen, um zu improvisieren, sich auszutauschen, um spontan Duos, Trios und größere Bands zu bilden. Kunstschaffende aus Georgien, Australien und dem Iran sind vor Ort. Bekanntester deutscher Teilnehmer ist der Komponist Heiner Goebbels, davon abgesehen liegt der Schwerpunkt auf US-Künstler:innen.
Aus Japan stammt der amerikanische Elektroniker Terre Thaemlitz (Thaemlitz verwendet abwechselnd die Pronomen sie und er).
Thaemlitz sitzt mit dem Rücken vor dem 180-Grad-Panoramafenster, hinter ihr glitzert der Fluss, dahinter die Chemiefabriken von Dormagen. Thaemlitz schichtet Noise-Collagen übereinander. Es sind Klänge, die nicht kategorisierbar sind, zuweilen durchsetzt von einem hohen Sirren, nahe an der Frequenz einer Hundepfeife. Klänge, die heimelige Ambient-Stimmung antäuschen, und gleich darauf mit fiesen Glitches zerstört werden. Ein Geräusch wie Nadeln, die vom Plattenteller rutschen.
Unruhige Zeiten rufen nach Einordnung. Seit den antisemitischen Vorfällen auf der Documenta 15 fühlen sich viele Festivalmacher:innen verpflichtet, Haltung zu zeigen. Bei den Veranstaltenden in Monheim klingt das so: »Auf den Bühnen der Monheim Triennale findet die Meinungsfreiheit dort eine Grenze, wo Äußerungen als antisemitisch, islamfeindlich rassistisch oder in irgendeiner Form menschenverachtend verstanden werden müssen«.
Ein Satz, von dem sich Terre Thaemlitz offenbar provoziert fühlt. Der Künstler hat die englische Version der Festival-Stellungnahme von einer KI einsprechen lassen und setzt sie nun, kurz vor Mitternacht vor dem Panoramafenster, neu zusammen. Sätze, die keinen Sinn ergeben, tauchen im Noise-Dickicht auf, und dann solche: »the Monheim Triennale / must be understood as antisemitic«.
Ein bitterer Witz? Eine plumpe Provokation?
Es ist nur eine Collage – aber von Thaemlitz genau so gewollt. Und es ist die angemessen diffus erscheinende künstlerische Verarbeitung einer hochkomplexen Debatte. Thaemlitz experimentiert, aber stellt keine absurden Behauptungen auf – das übernimmt die Kunst. Sie ist es, die Fragen aufwirft und die Unmöglichkeit des richtigen Umgangs thematisiert. Was hat Vorrang: Menschenwürde (oder zumindest Rücksichtnahme) oder die Kunstfreiheit? Was ist noch sagbar, was ist menschenverachtend?
Es bleibt eine der wenigen politischen Gesten an diesem ersten Juliwochenende. Nur am letzten Festivaltag zeigt Shahzad Ismaily ein »Palästina«-Shirt.
Der US-Multiinstrumentalist ist ständig auf Sendung, hält mit jedem einen Plausch. Er improvisiert humorvoll zum auf die Leinwand geworfenen EM-Spiel Deutschland-Spanien (»Is the red team Germany«?) und stellt sich medienwirksam unter das spritzende Wasser eines Kunstwerks. Es ist der künstliche Geysir, der alle paar Tage inmitten eines Kreisverkehrs nahe dem Festivalschiff ausbricht, eine kleine Monheimer Berühmtheit.
Ismaily, der schon mit Lou Reed und Yoko Ono spielte, gehört mit seinen 52 Jahren zu den älteren Künstler:innen der Triennale. Er ist der große Kommunikator und die Allzweckwaffe des Festivals; in der einen Band ist er an den Keyboards, in der anderen am Bass zu hören, oft kaum wahrnehmbar, aber immer präsent. In einem introspektiven Quartett bedient er die E-Gitarre: einer feinsinnigen Improvisation mit der Sängerin Ganavya Doraiswamy, der Violinstin yuniya edi kwon und Brighde Chaimbeul. Chaimbeul spielt eine Smallpipe, einen kleinen Dudelsack; das Soloset der Schottin in der Marienkapelle direkt am Rheinufer ist einer der Höhepunkte des Festivals.
»Länger zusammen zu arbeiten, spontan Sachen zu entwickeln – das erleben Künstler:innen im durchprofessionalisierten Tourneezirkus da draußen nur noch ganz selten«, sagt Thomas Venker. »Festivals bieten Künstler:innen oft ein suboptimales Umfeld. Die Triennale ist ein Festival, aber mit den Bedingungen einer perfekten Soloshow.« Der Kölner Autor Venker gehört zum fünfköpfigen Kuratorium der Triennale. Er weiß, dass solche Bedingungen ein Luxus sind. Möglich macht sie die nur in Monheim regierende Partei PETO, die die Gewerbesteuer in der Stadt vor Jahren gesenkt hatte. In der Folge siedelten sich zahlreiche Tech- und Chemie-Unternehmen an. Von den Steuereinnahmen profitieren die Monheimer:innen ganz unmittelbar: der Nahverkehr ist kostenlos; jede Grundschule hat ihr eigenes Orchester. Und dann ist da noch diese Idee des Bürgermeisters: die Triennale, die mindestens bis 2028 ein jährliches Programm bieten soll. Hauptspielort ist heuer die MS RheinFantasie, zum eigentlichen Festival 2025 soll das ganze Stadtgebiet genutzt werden.
»Pling Plonk«. So steht es in großen weißen Lettern auf dem Shirt eines Journalisten-Kollegen, der bevorzugt über Free Jazz bloggt. Solche Musik gibt es auch hier in Monheim; atonale Improvisationen und Musik, die Unkundige zunächst als Lärm empfinden mögen. Aber oft ist es so: je länger man sich dem aussetzt, desto mehr Sinn ergibt es.
Wie »Pling Plonk«-Musik mag manchem auch das verwirrende nächtliche Noise-Programm von Terre Thaemlitz vorgekommen sein. Doch es funktioniert: indem sie die Politik der KI übergibt, vermeidet der Künstler die Fremdscham, die umstrittene Statements oftmals im Publikum hervorrufen.
Leider zerstört Thaemlitz diesen Eindruck gleich am nächsten Abend. In der Panorama-Lounge, wo vormals ein DJ-Pult stand, steht nun ein Flügel.
Thaemlitz übernimmt nun anstelle der KI und liest selbst aus dem »Grenzen der Meinungsfreiheit«-Statement vor. Dann erwähnt sie das bekannte Nina-Simone-Zitat, nach dem es die Pflicht eines Künstlers sei, seine Zeit zu spiegeln. Dass es eine Anmaßung ist, sich mit einer der größten des 20. Jahrhunderts zu vergleichen: geschenkt. Aber Thaemlitz ist schlicht nicht in der Lage, auf dem Flügel Interessantes hervorzubringen. Ihr Cover von Bill Evans’ »Peace Piece« verkommt zum selbstbezogen-dahinplätschernden Kitsch, der obendrein eine ganze Stunde andauert.
Falls der Künstler einen Eklat provozieren wollten, ist sie gescheitert. Danach zeigt das Publikum vor allem ratlose Gesichter, auch der Festivalleiter gibt sich gelassen ob der Kritik an seinem Grußwort: er habe diese Reaktion einkalkuliert.
Nicht alles hat funktioniert bei der Mini-Monheim-Triennale. Gerade die Duos sind von einer Zurückhaltung geprägt, die offenbart, dass die hier Musizierenden noch nicht recht zusammen gefunden haben. Herausragendes in einem experimentellen Rahmen zu schaffen, braucht Zeit. Umso beeindruckender die nachmittäglichen Solo-Performances in der 500 Jahre alte Marienkapelle: Brighde Chaimbeul und ihr Dudelsack-Adaption von Philip Glass, das Set der Violinistin yuniya edi kwon zwischen Spoken Word und Oper, und Peter Evans’ technische Brillanz auf Trompete und Piccolo-Trompete.
Gekonnte Dekonstruktion, berückende Introspektion, aber auch Ratlosigkeit: das Festival-Vorspiel hat drei Tage lang beides produziert. Die eigentliche Triennale im Jahr 2025 könnte mit weniger Polit-Talk und mehr Absprachen zwischen den Musiker:innen durchaus Großes hervorbringen.
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Jan Paersch ist freier Kulturjournalist aus Hamburg. Er arbeitet für taz, ZEIT und verschiedene Print-Magazine, darunter Hinz&Kunzt und Jazzthing. Für DLF, DLF Kultur und NDR moderiert und produziert er regelmäßig Beiträge, für NDR Blue die Indie-Sendung Nachtclub Raw. Sein Radio-Feature über Ibrahim Maalouf war für den Deutschen Jazzpreis 2024 (Kategorie Journalismus) nominiert.