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reise nach wuppertal: gezeiten der talstadt

Aus Noies 05/24 September 2024

Alle paar Jahre rauscht eine Welle durch Wuppertal. Doch auch, wenn keiner guckt, trotzt die lokale Szene der fehlenden Kulturförderung mit einem Angebot von Communityarbeit bis internationalem Line-Up. Roberto Beseler Maxwell und Friedemann Dupelius darüber, warum die Talstadt gerade zurecht Aufmerksamkeit bekommt.
Aus Noies 05/24

→ instagram.com/duninychus

Von Roberto Beseler Maxwell und Friedemann Dupelius


»Die S-Bahn fährt in beide Richtungen gleich schnell.« David Becher hat genau gemessen, den Fahrplan gut gelesen, oder einfach viel Erfahrung gesammelt. »Aber die Perspektive darauf ist unterschiedlich. Im Zweifel wissen alle Wuppertaler, was in Köln oder in Düsseldorf an Kulturprogramm geboten wird. Umgekehrt ist es schwierig«, weiß der Schauspieler aus der Stadt, die weder Rheinland noch Ruhrgebiet ist, und doch nur rund 20 Bahnminuten von Düsseldorf, 30 von Köln und 45 von Essen entfernt liegt. 

Foto: Friedemann Dupelius


»Wuppertal ist eigentlich vergessen worden. Ich würde jetzt die These aufstellen, der neue ist Hype da«. (Maik Ollhoff, LOCH)

»Wenn du dich im Berghain in die Schlange stellst, kann das drei, vier Stunden dauern. Und du weißt noch nicht mal, ob du reinkommst. Wenn du dich umdrehst, fährt 100 Meter hinter dir ein ICE vom Ostbahnhof nach Wuppertal, das dauert auch nur vier Stunden«, so zitiert Markus Riedel den Berliner Laptop-Musiker Monolake. Der hat vor kurzem ein Live-Set im neuen Club Open Ground gespielt, den Markus mitgegründet hat. Spätestens diese Anlaufstelle für entdeckungsfreudige elektronische Musik, eröffnet im Dezember 2023, eingerichtet metertief unter der Erde in einem alten Nuklearbunker direkt vor dem Hauptbahnhof, hat für eine neue Zeitwahrnehmung gesorgt. Im Kleinen: Wuppertal fühlt sich gar nicht mehr so weit weg an von den umliegenden größeren Städten. Im Großen: Womöglich hat spätestens damit eine neue Blütezeit für die ehemalige Hochburg der Chemie- und Textilindustrie begonnen. It’s a Hype. These! Was ist wirklich dran, wenn schon Die ZEIT im März 2023 titelte: »Das neue Berlin heißt Wuppertal«? Und welche Rolle spielen dabei Orte für Musik und Kultur, spielen die Musikschaffenden? Insgesamt vier mal sind wir also aus Köln und Essen angereist, um mit lokalen Akteur:innen zu sprechen und dem vermeintlichen Hype nachzuspüren. 

© ORT Wuppertal

Im schönen Luisenviertel finden wir einen versteckten Ort: Den ORT. Gunda Gottschalk, Violinistin und Vorstandsmitglied der Peter Kowald Gesellschaft/ort e.V., öffnet uns die Tür in das alte Atelier des Wuppertaler Kontrabassisten Peter Kowald. Gegründet im Jahre 2002 veranstaltet der Verein regelmäßig Abende improvisierter Musik in Dialog mit Tanz und bildender Kunst sowie Diskussions- und Filmabende. Für Gunda kommt und geht der Hype in Wellen. Für den ORT fand die erste große Welle in den Jahren 1994 auf 1995 statt. Peter Kowald beschloss damals, nicht durch die Welt, sondern durch seine Heimatstadt mit Dreirad und Instrument zu reisen. In New York kannte man ihn, in Wuppertal weniger. Gedacht als Rückzug ist dann aber genau das Gegenteil passiert. Kowald spielte jeden Samstag im ORT und lud für die zweite Hälfte der Konzerte Gäste aus aller Welt ein. Die internationale Free Jazz Szene reiste nach Wuppertal, statt es, wie sonst, andersherum zu tun, und dies 365 Tage lang. Aktuell sieht Gunda wieder eine positive Tendenz, es tauchen vermehrt unbekannte Gesichter im Publikum auf.


»Wuppertal war ja immer schon so ein Amalgam ganz unterschiedlicher Mentalitäten und kultureller Einflüsse. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts ist es eine Zuwanderungsstadt. Hier war Arbeit, hier war Industrie, hier kamen Menschen her, um ihr Glück zu suchen.« OB Uwe Schneidewind

Schon vor 200 Jahren gab es also einen Hype um Wuppertal. Wer Arbeit suchte, fand sie hier. Auch die gelebte Religionsfreiheit lockte Menschen ganz unterschiedlicher Glaubensrichtungen an. Vor den Weltkriegen zählte Wuppertal zu den reichsten Städten Deutschlands. Und dann ebbte es wieder ab. Schritt für Schritt, Welle für Welle, ging der Wohlstand die Wupper hinunter. 

Arbeitsplätze und Wohlstand brachen weg. Heute lebt jedes dritte Wuppertaler Kind in Armut. Generell sind die Mieten günstig – man findet hier großzügige Altbauwohnungen für in Kölner Maßstäben utopische 6 Euro pro Quadratmeter, was zunehmend auch Künstler:innen und andere Kreative aus den umliegenden Großstädten anzieht. OB Uwe Schneidewind, seit 2020 im Amt, geht sogar noch einen Schritt weiter: »Ein bisschen mehr Gentrifizierung würde der ökonomischen Grundsubstanz der Stadt ganz gut tun.«

© Uwe Schneidewind

Schneidewind erzählt von den Möglichkeiten einer nachhaltigen, zukunftsorientierten Stadtentwicklung, in der bürgerschaftliches Engagement eine große Rolle spielt. Auch das hat in Wuppertal lange Tradition und ist insbesondere in Zeiten leerer Stadtkassen von Bedeutung. Kulturförderung konzentriert sich hier vor allem auf die sogenannte Hochkultur (konkret: Theater, Oper, Sinfonieorchester) und auf den Aufbau des Pina-Bausch-Zentrums für zeitgenössischen Tanz. Da bleibt wenig Spielraum für anderes. So ist privates Mäzenatentum gefragt, das schon im 19. Jahrhundert die Initiative ergriffen hatte und sein Erbe zum Beispiel in den zahlreichen Bürgerparks der Stadt bis heute zugänglich macht. 


»Wir brauchen Mäzenaten auch als Stabilisierer für eine gesellschaftliche Kultur, für die Demokratie.« (OB Uwe Schneidewind)

Der Club Open Ground führt diese Tradition eindrucksvoll fort. Hinter ihm steht ein ungleiches Brüderpaar aus Wuppertal: Hier der Musiknerd Markus, der in jungen Jahre nach Berlin übersiedelt und sich in der aufkeimenden Clubszene der 1980er und 90er verdingt. Dort sein jüngerer Bruder Thomas, der vom Garagentüftler zum Weltunternehmer wird. Seine Funktechnologie wird von der Formel 1 bis zu den Bundesliga-Schiedsrichtern genutzt. Hier, unter der Erde, fanden die Riedel-Brothers wieder zusammen. Der eine stiftete Ideen und Zeit, der andere das nötige Geld, um den Luftschutzbunker zwischen Wupper und Hauptbahnhof zu einem der eindrucksvollsten Clubs Europas auszubauen. Ein Projekt, das sich ganz offiziell die Stadt Wuppertal so gewünscht hatte, und das seit seiner Öffnung international Welle macht. 

© Open Ground


»Ein Club hat eine Identität. Es ist ein Dialog auf dem Dancefloor und der geschieht mit den Leuten, die da hingehen. Was hier passiert, ist auch ein Dialog für die Stadt.« (Arthur Rieger, Open Ground)

Arthur Rieger ist für das musikalische Programm hauptverantwortlich und holt sowohl internationale Szenestars wie Ben UFO, DJ Storm und Calibre, aber auch aufstrebende DJs und lokale Acts nach Wuppertal. An den Wochenenden sendet das Soundsystem der Premium-Marke »Funktion One« hier, bestens kalibriert, Genres wie Dubstep, Drum&Bass, Jungle oder Bass Music in den Raum – Musik, die auf den Anlagen besonders gut funktioniert. Ein Teil des lokalen Publikums, der auf geradlinigen Techno getrimmt ist, war davon enttäuscht, der Club blieb anfangs oft ziemlich leer. Mittlerweile lassen sich aber erste Früchte der Arbeit ernten, das Konzept scheint zunehmend verstanden und sogar aus dem Ausland fliegen die Partygäste ein.

Mit dem Wuppertaler Pendant zur Gondel, der Schwebebahn, fahren wir bis zur Haltestelle Ohligsmühle und erreichen bald einen mit Graffiti gefüllten Spielplatz. Links ein paar Treppen hoch findet sich die Eingangstür zum LOCH. Seit 2010 gibt es das soziokulturelle Zentrum, welches 2017 ins ehemalige Bücherschiff in Elberfeld gezogen ist. Angefangen hat es mit der Idee des »Sommerlochs«: Leerstände zwischenzunutzen, um den Sommer kulturell zu überbrücken. Anders als häufig gedacht, handelt es sich nicht um einen Jazzschuppen. Ganz im Gegenteil wird eine breite Palette an kulturellen Veranstaltungen angeboten, egal ob offene DJ-Abende oder experimentelle Popmusik-Konzerte, dabei oft mit einem Fokus auf Nachwuchsförderung und Inklusion. In dieser Zeit ist um das LOCH eine Szene herangewachsen. Seit Ende 2023 wächst diese auch nach einem logischen Corona-Einknick erneut. Besonders eintrittfreie Formate, die einen Treffpunktcharakter mit sich ziehen, locken viele an. Andererseits empfindet es der künstlerische Leiter Maik Ollhoff als schwierig, an neue Menschen in einer armen Stadt wie Wuppertal heranzukommen oder bei Veranstaltungen mit Eintritt genügend Tickets zu verkaufen. Über das Absagen von Konzerten wird nicht nachgedacht. »Das ist auch ein Knackpunkt im Vergleich zu Düsseldorf, Köln oder anderen Städten. Hier ist nicht diese Masse an Publikum, die mal so rausgehen will. Man muss schon etwas sehr Spezielles liefern, um Leute von außen hier hinzuziehen.«

Die Verlierer im LOCH. Foto: Alexander Worreschk

Maik benennt ein Paradoxon: Während die Stadt gerade ein spannendes Feld aufweist und regelrecht brodelt oder »wuppert«, geht es vielen kulturellen Einrichtungen finanziell schlecht. Die Möglichkeit neue Räume zu erschließen und die Förderung der freien Szene seien nicht ausreichend. »Kultur ist hier das Ding, ein wichtiges Aushängeschild, aber gleichzeitig ist die Wertschätzung nicht da«, moniert Maik. Dabei helfe die große Bereitschaft zur ehrenamtlichen Arbeit. Besonders in der Utopiastadt ist dies eine wichtige Begebenheit. 


»Alles, was an Kulturveranstaltungen hier passiert, ist im Prinzip ein defizitäres Geschäft. Es ist eher so, dass die Veranstaltungen, die hier laufen, mit viel ehrenamtlichen Engagement passieren.« (Christian Hampe, Utopiastadt)

In Wuppertal geht es, und das ist nicht metaphorisch gemeint, schnell bergauf. Wir laufen den von Gründerzeitbauten gesäumten Hügel der Wuppertaler Nordstadt hoch zum ehemaligen Bahnhof Mirke. Zwischen Nordbahntrasse und Bahnhof lädt das weitläufige Gelände der Utopiastadt zum Verweilen, Trinken und Entdecken ein. Was Utopiastadt überhaupt ist, ist schwierig zu erklären. Vorstandsmitglied David Becher beschreibt es augenzwinkernd als einen Ort, in dem man alles von »Blümchen pflanzen bis Stadtentwicklung machen« kann. Die Gewichtung fällt eher auf das Letztere, mit einer Mischnutzung aus Hackerspace, Co-Working-Space, Atelier- und Projekträumen und einem Café. Als vereinende Klammer dient die Idee des »andauernden Gesellschaftskongresses«. Seit 2019 wird das Bahnhofsgebäude saniert, eine noch andauernde Mammutaufgabe, die mit tatkräftiger ehrenamtlicher Unterstützung bewältigt wird. 

Die Utopiastadt will sich nicht labeln. Wichtiger ist das Angebot von Raum, den jede:r selber gestalten kann und an dem kooperative Prozesse ernst genommen werden. Die meisten Leute arbeiten ehrenamtlich hier, um ihre Stadt zu verschönern und schaffen damit einen Gegenpol zu Investorenlogik und Profitinteressen.

Auf die Frage, was eine Utopie sein kann, hält David einen kleinen, spontanen Vortrag: »Die bestvorstellbare Gesellschaft«, »Progression als Grundzustand« und »Anarchie, aber immer nur mit Verantwortung«. Das alles findet hier Platz und Umsetzung. 

Die Utopiastadt ist seit rund anderthalb Jahrzehnten weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und hat Wuppertals Ruf gut getan. Jenseits von Fragen nach kurzlebigen Trends oder temporärer Aufmerksamkeit interessieren sich Christian, David und die anderen »Utopist:innen« aber vor allem für die Frage, wie wir miteinander in einer Gesellschaft umgehen wollen. Die Frage ist mindestens so komplex wie das Gebilde der Utopiastadt, aber genau das macht auch den Reiz dieses »Gesellschaftskongresses« aus. 

Selbstredend haben wir mit diesen Stippvisiten längst nicht alle Kulturorte Wuppertals abgegrast. Erst im Frühjahr 2024 eröffnete ein neues Kollektiv den Club Crowd in der Innenstadt, als Nachfolger der Mauke. Im ehemaligen Gasometer ist das Visiodrom mit seinen multimedialen Ausstellungen zuhause. Und bevor das Pina Bausch Zentrum im ehemaligen Schauspielhaus eröffnet, haben bereits tänzerische Interventionen im öffentlichen Raum für neue Blickwinkel auf die Stadt gesorgt. 

Schramm + Support: Fiese Luise im LOCH. Foto: Alexander Worreschk

Zurück ins Zentrum: Zum Café 23 gehört neben der Dachterrasse auch ein bestuhlter Betonsteg über die Wupper. Dass ihr Wasser zur Kühlung des Open Ground-Bunkers eingesetzt wird, lässt sich von hier nicht erkennen. In ihrem Betonbett liegt sie auch ganz ruhig da, von Wellen keine Spur. Ein langhaariger Mann mit Kaffeetasse in der Hand setzt sich an den Nebentisch und erzählt, dass er früher Saz gespielt, sein Instrument aber seit Jahren nicht mehr angerührt hat. Den neuen Club nebenan kennt er gar nicht. Nicht jede Welle sorgt gleich für Aufsehen, manche bleiben erstmal gut verborgen. Und doch hat man das Gefühl, dass es die Gezeiten ganz gut mit Wuppertal meinen. Die Vielzahl kleiner Akteur:innen, Macher:innen und Utopist:innen sorgen für Optimismus und eine gewisse Aufbruchstimmung. Wenn sich der Mietmarkt weiter entwickelt wie in den letzten Jahren, ist es gut möglich, dass die Zuwanderung aus Köln, Düsseldorf oder dem Ruhrgebiet in nächster Zeit zunehmen wird und sich die Kräfteverhältnisse zumindest ein wenig verschieben oder annähern werden. Wir sind aber keine Seismografen und ohnehin sollte man sich nicht von Wind und Wetter abhängig machen. Gunda Gottschalk vom Ort greift auf, was sie mal aus der Utopiastadt aufgeschnappt hat: »Da gibt es die Idee, dass man Städte nicht nur mit der Währung des Geldes bewertet – also wer wie viel verdient und wie viele Steuern einbringt –, sondern dass da noch eine zusätzliche Währung zur Messung von Wohlstand eingeführt werden sollte. Und die heißt: Glück.«

This article is brought to you as part of the EM GUIDE project – an initiative dedicated to empowering independent music magazines and strengthen the underground music scene in Europe. Read more about the project at emgui.de

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Roberto Beseler Maxwell ist Kurator, Klarinettist und Kulturmanager aus Spanien. Seit 2018 lebt er in Essen, wo er an der Folkwang Universität der Künste Musikwissenschaft und Klarinette studiert. Friedemann Dupelius arbeitet mit Sound und Sprache. Er erforscht die akustische und mediale Gegenwart in Radiofeature, Essay, Interview, Track, Hörstück, Audio Paper und Libretto.