NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

tina tonagel verliebt in lötkolben

Juli 2022

Was haben Sie denn bloß mit meiner Tochter gemacht? Das Einzige, was die sich zu Weihnachten wünscht, ist ein Lötkolben!

Das hat mich tatsächlich einmal die erstaunte Mutter einer 8-jährigen Workshopteilnehmerin gefragt. Mich wundert der Wunsch der Tochter ganz und gar nicht. Ich finde es eher unverständlich, dass sich so viele Menschen KEINEN Lötkolben zu Weihnachten wünschen. Allerdings gehöre ich inzwischen selbst dieser genügsamen Gruppe an, weil ich ja schon einige Lötkolben habe und mir sowieso niemand etwas zu Weihnachten schenkt. Da schenke ich mir nur selber was, nämlich schon seit Jahren das Gleiche: eine Löt- und Bastelwoche mit Britta in wechselnden skurrilen Ferienhäusern in wechselnden deutschen Mittelgebirgen. Wenn wir Glück haben, gibt es dort eine umsonst nutzbare Sauna im Reha-Zentrum nebenan. Wenn es keine Sauna gibt, haben wir weniger Termine und können den kompletten Tag durchlöten. Das macht uns dann auch sehr glücklich.

Wir bringen extra Tische mit, weil in Ferienwohnungen meist nur ein Esstisch und keine Arbeitstische vorhanden sind und wir uns ja ordentlich ausbreiten müssen mit unseren ganzen Kisten voller Elektronik. Wir bringen auch Lampen mit, weil Ferienhäuser grundsätzlich sehr schlecht ausgeleuchtet sind und man sich sonst die Augen verdirbt. Wir reden nicht viel. Alle paar Stunden vielleicht stellt eine von uns fest, dass sie ein ganz bestimmtes essentiell notwendiges Bauteil für die spontan jetzt doch in Angriff genommene Schaltung nicht dabei hat. Das hat dann normalerweise die andere zufällig mit. Und findet es auch sofort! Denn auch wenn es sonst im Leben schwierig ist, Ordnung zu halten (bei mir ist es besser geworden, seitdem ich mich regelmäßig mit meiner Nichte zum gemeinsamen Aufräumen per Skype verabrede) – in einem Elektronik-Sortimentskasten ist immer alles tiptop organisiert (ich bestelle auch immer direkt nach, wenn ich einen Vorrat fast weggelötet habe).

Neulich habe ich meiner Nichte ganz begeistert erzählt, wie sehr ich mich jedes Mal freue, wenn ich beim Aufräumen unerwartet ein Bauteil finde, zum Beispiel eine 3,5mm Klinkenbuchse unterm Sofa. Oder ein DFPlayer-Modul neben der Spüle. Oder gar ein Arduino-Nano. Diese ganzen kleinen Teile bergen unendlich viele Anwendungsmöglichkeiten und überwältigen mich immer wieder aufs Neue, auch wenn ich davon schon Hunderte verlötet habe. Mir kommen manchmal fast die Tränen beim Anblick eines Miniatur-Kippschalters. Meine Nichte kann das nicht ganz nachvollziehen, tut aber wohlwollend so, als ob sie es doch verstünde. Sie kann natürlich sehr gut löten, interessiert sich aber nicht für Elektronik und findet andere Sachen schöner als ausgerechnet kleine Kippschalter.

Manchmal stelle ich mir vor, wie und ob die Welt funktionieren würde, wenn alle so wären wie ich.
Och, wär das schön, wenn alle…
(Das wäre ohne Zweifel eine Katastrophe.)

Beim Löten gibt es nämlich verschiedene Bewusstseinsebenen:

1. Das Entwickeln, Testen, Verbessern und Verstehen einer neuen elektronischen Schaltung. Diese Stufe erfordert höchste Konzentration.

2. Das feste Verlöten eines Prototyps dieser Schaltung – das geht dann auch mit Musik im Hintergrund (dringende Hörempfehlung: »Du kleine Löterin« von Piet Janssens).

3. Die Massenproduktion, wo einfach nur ein Widerstand nach dem anderen in sieben oder zwölf oder 240 vorher mühsam selbst geätzte Platinen eingelötet werden muss. Während der Massenproduktion sind sogar ausschweifende Grübeleien über das Leib-Seele-Problem oder das Ziegen-Problem, manchmal auch neue Erkenntnisse zum Bleib-Liegen-Problem möglich und erwünscht. Oder es taucht aus dem Nichts die Frage auf, ob man gemeinsam einen Punkt zeichnen kann. Oder ob eine Schraube wirklich eine um einen Stab gewickelte schiefe Ebene, also eine einfache Maschine ist.

Aber irgendwann ist auch die schönste und erhellendste Platinen-Löt-Orgie zu Ende und dann bleibt eigentlich nichts anderes, als ein hinters Bett gefallenes Potentiometer wiederzufinden und ein Ferienhaus im Taunus zu buchen.

Die Kölnerin Tina Tonagel arbeitet als freie Künstlerin in den Bereichen Kinetik und Klangkunst und entwickelt raumbezogene kinetische Installationen. Ihre Arbeiten werden international und national gezeigt und wurden vielfach ausgezeichnet.