NOIES MUSIK
SZENE NRW
Zeitung für neue und experimentelle Musik

florian walter verliebt in das ewi

Aus Noies 02/23 September 2023

In einem alten Jazzbuch findet Florian Walter ein Instrument, das aussieht, als käme es aus der Zukunft, und für das die Welt noch nicht bereit scheint: das EWI. Grund genug, dem Instrument eine Liebeserklärung zu widmen.
Florian Walter (Fotografiert von Caroline Schlüter, 2017)
Aus Noies 02/23

florianwalter.yolasite.com

Eine meiner frühesten Erinnerungen auf dem Weg zum »Jazzmusiker« ist ein zweiteiliger Reclam-Band mit bebilderten Artikeln zu unseren Szene-Held:innen. Mit ungefähr 13 Jahren konnte ich mir darin meine Idole anschauen und bin aus der Rückschau begeistert, dass mir das Nebeneinander von John Coltrane, Franz Koglmann, Chet Baker und John Zorn einen recht breiten Horizont auf die verschiedenen Strömungen der Gattung eröffnete. Was ich allerdings lange nicht verstand, ist, warum Michael Brecker, für meine damalige peer group ein besonders stereotyper Saxophonist, auf dem Foto dort mit einem Instrument zu sehen war, das aussah wie eine aus dem PC gerissene Grafikkarte mit integrierter Trinkhilfe. Ein paar Jahre später dann die Erleuchtung: Ah, ein elektronisches Saxophon (sic!) – auch Blaswandler genannt. Oder, je nach Hersteller: EWI (Electronic Wind Instrument). Na gut, eine gewisse Faszination für obskure Instrumente hatte ich eh längst entwickelt, also ab dafür und ausprobiert.

Als ich das erste Mal ein Akai EWI 4000S in den Händen halte… maßlose Enttäuschung: Auch wenn die Optik begeistert und an irgendwas zwischen Weltraumtaxi und Volkswagen ARVW erinnert, fühlt es sich doch einfach falsch an, statt einer satt-reaktiven Mechanik die Finger über viel zu sensible Metallkontakte huschen zu lassen. Das richtige Register zu treffen wird auf einer Art Daumen-Laufband zur Lotterie und die Hyperventilation beim Wunsch, reelle Dynamik zu erzeugen, ist vorprogrammiert. Von der durchwachsenen Qualität des integrierten Synthesizers mal ganz abgesehen*. Schade eigentlich, hat sich doch hier offensichtlich jemand wirklich Gedanken gemacht, wie sich die Features diverser Holzblasinstrumente auf ein elektronisches Interface übertragen ließen.

Florian Walter
Florian Walter (Fotografiert von Felix Tenhaef)

Während die meisten Kolleg:innen in meinem Umfeld das Instrument als besseres Spielzeug verurteilten, blieb bei mir der Eindruck zurück, dass es sich hier im Kern um ein visionäres Instrument handelte, welches kein anderes ersetzen soll, sondern einer völlig eigenen Ästhetik und Idiomatik bedarf. Und welches in sich die Magie des Virtuellen birgt, das noch unrealisierte Potential einer spekulativen Musikgeschichtsschreibung, welche sich nicht in Kirchen, Höfen, Philharmonien und Clubs entwickelt hätte, sondern in einem multidimensionalen Internet, wie William Gibson es beschrieb. Dafür müssen wir uns jedoch von dem Gedanken verabschieden, es handle sich hier nur um ein mittelmäßiges Saxophon-Surrogat, und es in Aura und Funktion eher bei einem Instrument wie, sagen wir mal, der Shakuhachi verorten.

Im Sinne des hier skizzierten Forschungsansatzes gründete ich gemeinsam mit Jan Klare (ebenfalls am EWI) und Karl-F. Degenhardt (analog dazu an der elektronischen Perkussion) vor einigen Jahren das Trio »Meat.Karaoke.Quality.Time.«. Mit diesem arbeiten wir seitdem an eben einer solchen Parallelrealität, in der nicht das Saxophon zuerst kam, sondern das EWI.

* Bezeichnenderweise verfolgen aktuelle Modelle eher den Ansatz, einen z.T. erstaunlich authentischen Saxophon-Klang zu imitieren.

Florian Walter ist Saxophonist, Klarinettist und im Bereich der zeitgenössischen Komposition tätig. Er studierte Schulmusik, Jazz-Saxophon, Komposition und Geschichtswissenschaften in Essen, und spielt in zahlreichen Ensembles von experimentellem Pop über Neue Musik und Freie Improvisation bis Theatermusik.