NOIES MUSIK
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Zeitung für neue und experimentelle Musik

vieles und doch zu wenig! zum tod des musikers und komponisten udo moll

Aus Noies 03/23 Oktober 2023

Völlig unerwartet verstarb Udo Moll zu Beginn dieses Jahres. Mit ihm verliert die Musikwelt eine einzigartige Stimme, die sich nie nur auf eine Facette festlegen ließ. Hubert Steins erinnert an den Musiker, der nie aufgehört hatte zu suchen, zu (er)finden und sich und seine Kunst weiterzuentwickeln.
Aus Noies 03/23

Auch Virtuosen fangen bekanntlich klein an. Für Blechbläser bedeutet das nicht selten, mit der volkstümlichen Musik der Heimat zu beginnen. Für Udo Moll, der am 14. Januar durch ein Hirnaneurysma mit nur 56 Jahren aus dem Leben gerissen wurde, war das die Musik der Jugendblaskapelle seiner baden-württembergischen Heimat Uhingen.

Für jemanden, der »von der Pike auf« die Erfahrung macht, dass Musizieren soziale Praxis oder besser soziale Plastik ist, werden Genregrenzen vermutlich recht bald belanglos. Als einen Monat nach seinem Tod WegbegleiterInnen auf einer Trauerfeier im Ehrenfelder Loft von ihm Abschied nahmen, begegneten sich folglich FreundInnen von Udo Moll aus verschiedensten Musikszenen. Obwohl er sich in den vergangenen Jahren zunehmend zum elektroakustischen Experimentator gewandelt hatte, war er als Trompeter dem Folkloristischen stets treu geblieben: als Gründungsmitglied der Banda Metafisica gemeinsam mit Nicolao Valiensi und Carl Ludwig Hübsch; später als Mitglied von La Piccola Banda mit Carl Ludwig Hübsch, Annette Maye und dem ebenfalls viel zu früh gegangenen Frank Köllges.

Udo Moll hatte Anfang der 1990er Jahre mit Beginn seines Musikstudiums bei Manfred Schoof und Johannes Fritsch die Kölner Musiklandschaft betreten. Wie häufig bei »Imis« war auch er sogleich Feuer und Flamme für den Kölner Karneval; eine Begeisterung, die sich in der Freundschaft und langjährigen Zusammenarbeit mit Marion Radtke für Viva La Diva manifestierte. Mit der Gründung von novotnik 44 setzte er 1993 sogleich eigene stilpluralistische Vorstellungen um. Das prämierte Septett verband meisterlich und oft humorvoll Themen aus der europäischen Folklore mit klassischen Jazzarrangements und Neuer Musik. Stets zurückhaltend und bescheiden machte Udo Moll kein Aufsehen darum, dass er über die Jahre zum hoch geschätzten Mitglied zahlreicher Formationen wurde wie der Schäl Sick Brass Band, der Missiles von Frank Köllges, des Tabadoul Orchestra, des James Choice- bzw. Multiple Choice-Orchestra oder im Simon Rummel Ensemble.

Und er setzte weiterhin mit eigenen Formationen Akzente. Die bekannteste war natürlich diejenige, die seinen Namen trug: das mollsche gesetz. Das Konzept: Kein Stück länger als sechzig Sekunden, danach eine Pause in gleicher Länge! Als Grenzgänger zwischen Jazz und Neuer Musik griff das 2004 mit Sebastian Grams und Matthias Muche gegründete Trio John Cage auf und machte die Stille zum integralen Bestandteil der Musik. Highlight unter den Aktivitäten des Trios waren die Kooperationen mit Kolleg:innen wie Maria de Alvear, John Tilbury, Elliott Sharp, Wolfgang Mitterer, Sidsel Endresen und dem Institut für Feinmotorik während der Kölner Musiktriennale 2007.

Nicht nur improvisierend, sondern stets auch komponierend verschoben sich um die 2010er Jahre Molls Interessen. Infinite loop, ein Duo-Projekt mit seinem alten Freund und Studienkollegen Florian Ross, verband den Jazz auf elegant zurückhaltende Weise mit Elementen des Minimaltechno. Hier ist Udo Moll nicht länger nur Trompeter sondern auch improvisierender Elektroniker am Laptop.

Das Interesse an der universalen Klangmaschine war allerdings nicht von Dauer, das an der digitalen Bildmaschine sehr wohl. Die Expansion ins Bewegtbild war schon viele Jahre gemeinsam mit der Videokünstlerin Gudrun Barenbrock erprobt, etwa im gemeinsamen Projekt Punchcard Music für das Acht Brücken Festival 2013 oder noch 2021 in der Gemeinschaftsarbeit superflat mit Unterstützung des Cello-Trios Nora Krahl, Elisabeth Coudoux und Violeta García. Für das 2021 mit dem Saxophonisten Leonard Huhn gegründete Duo Shakespeare ZombieNation II war es dann Moll selbst, der die digitale Bildregie übernahm. Als Klangmaschine blieb der Laptop natürlich weiterhin Werkzeug, die Leidenschaft fürs Elektronische hatte sich inzwischen jedoch auf den (heute meist nicht mehr ganz) analogen Modularsynthesizer verschoben. Einschneidende Begegnungen hatten da vermutlich nachgeholfen, denn 2015 nutzte Udo Moll sein Villa-Aurora Stipendium in Kalifornien für Interviews mit den Gründervätern des San Francisco Tape Music Center Ramon Sender, Anthony Martin und Morton Subotnick. Mit 321 Divisadero entstand aus diesen Recherchen ein Hörstück über das Tape Center für den SWR, Molls vierte und letzte Arbeit für das experimentelle Hörspiel.

Auch sein Debüt als Hörspielmacher war diesem Stipendium zu verdanken. Hatte sich bereits 2013 in der Punchcard Music ein medienarchäologisches Interesse an den Vor- und Frühformen der digitalen Technik artikuliert, nutzte Moll seinen Aufenthalt an der Geburtsstädte der Tech-Industrie auch für Recherchen zur Frühgeschichte des modernen Computers. Sein Hörspiel-Debüt ENIAC girls (DLF 2017) fokussierte jedoch nicht auf technologische oder medientheoretische Fragen, sondern rückte die Programmierleistungen jener Frauen ins Zentrum, die in den 1950er und 60er Jahren als Stenotypistinnen und Zuarbeiterinnen marginalisiert wurden. Neben diesen zwei amerikanischen Erzählungen entstanden mit Abenteuer (ORF 2020) und Otaku Nation (SWR 2020) zwei experimentelle Hörspiele, die sich der Gaming Kultur widmeten. Insbesondere Otaku Nation verarbeitet Field Recordings, die Moll während eines Japanaufenthaltes 2018 gesammelt hatte.

Udo Moll, der an der Trompete immer ein Vollblutmusiker blieb, hatte das Hörspiel gerade erst als Medium für sich entdeckt. Es erlaubte ihm, Reiseerfahrungen künstlerisch zu transformieren, um die abstrakte Welt der Musik mit Welthaltigkeit zu verbinden. Aufnahmen, die auf einer Südkorea Reise 2022 entstanden, lagen schon für ein nächstes Hörspielprojekt auf seinem Rechner bereit. Wir wüssten gerne, was uns Udo Moll noch alles als Trompeter, Komponist und Hörspielmacher zu erzählen hätte. Nun müssen wir mit dem Vielen Vorlieb nehmen, das er uns hinterlässt und das doch viel zu wenig ist in Anbetracht seines allzu kurzen Lebens.

Hubert Steins, geb. 1965 in Mönchengladbach, lebt und arbeitet in Köln. Seit Mitte der 1990er Jahre realisiert er Klangarbeiten und grafische Werke. Daneben produzierte er bislang mehr als 150 Hörfunkproduktionen zur Neuen Musik und Klangkunst für öffentlich-rechtliche Sender. → steinshubert.wordpress.com